Berlin. Bisher stimmten Deutschtürken vorwiegend für die SPD, sowjetische Spätaussiedler für die CDU. In diesem Jahr dürfte sich das ändern.

Bei der Bundestagswahl am 24. September können 6,29 Millionen Deutsche mit Migrationshintergrund ihre Stimme abgeben – jeder zehnte Wahlberechtigte. Für die Parteien sind sie wichtige Wähler. Doch bei zwei der größten Migrantengruppen zeichnet sich ein Trend ab: Sowohl Deutschtürken als auch Russlanddeutsche wenden sich von den etablierten Parteien ab.

Im Fall der Deutschtürken liegt das auch an der Armenienresolution des Bundestages, der die Ermordung von Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord einstufte. „Die Armenienresolution und die weiteren Diskussionen über die Türkei seitdem haben viele Türkeistämmige gegen die deutschen Parteien aufgebracht“, sagt der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu. Bei vielen der 727 000 Wahlberechtigten mit türkischen Wurzeln zeichne sich ab, dass sie nicht wählen werden.

Schaden dürfte das vor allem der SPD. „Als Arbeitsmigranten wählten viele Türkeistämmige in Deutschland die SPD“, erklärt der Meinungsforscher Joachim Schulte. Das brachte ihr die Stimmen von bis zu 70 Prozent der Deutsch-türken ein. Eine Studie von Schultes Kommunikationsagentur „DATA4U“ zur politischen Einstellung von Migranten in Bayern zeigt für Deutschtürken andere Ergebnisse: Sie „stimmen aktuell mit allen Parteien besonders wenig überein“. Viele nähmen die deutsche Politik nur

über AKP-nahe türkische Medien wahr, sagt Schulte. „Sie haben daher kaum mehr Vertrauen in das deutsche Parteiensystem.“ Zwar gehe die Tendenz unter Deutschtürken nach wie vor zur SPD, so Schulte. „Doch sie wird in dieser Gruppe deutlich weniger Stimmen holen als in der Vergangenheit.“

Spätaussiedler wählen verstärkt die AfD

Auch die Grünen trifft die Türkeidebatte. Sie profitierten lange

von ihrem integrationsfreundlichen Kurs und dem türkischstämmigen Vorsitzenden Cem Özdemir. Gerade der Parteichef schade den Grünen mit seinem Erdogan-kritischen Kurs heute eher, meint Schulte.

Die Union dürfte hingegen bei den Russlanddeutschen verlieren. Mit 1,96 Millionen Wahlberechtigten bilden Spätaussiedler aus der Sowjetunion, vor allem aus Russland und Kasachstan, die größte migrantische Wählergruppe. Ein Großteil wählte lange fast automatisch CDU und CSU. Helmut Kohl hieß sie in den 90er-Jahren in Deutschland willkommen. Mit ihren oft konservativen Werten fühlten sie sich in der Union zu Hause. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Laut einer Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration zeigt sich unter Russlanddeutschen „ein regelrechter Einbruch“ in der Zustimmung zur Union.In der Umfrage lag sie zwar immer noch bei

45 Prozent, „der Anteil ist aber deutlich geringer als in allen früheren Befragungen“, heißt es. Und er dürfte weiter sinken. Immer mehr Spätaussiedler sehen ihre politische Heimat in der AfD. Bei

den Landtagswahlen in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg erzielte die Partei in den Wahlkreisen, wo besonders viele Ex-Sowjetbürger leben, die höchsten Ergebnisse, mancherorts über 40 Prozent. „Unter den Russlanddeutschen gibt es eine stärkere Neigung zur AfD“, sagt der Kölner Sozialwissenschaftler Dennis Spies. „Ich schätze diese auf bis zu 20 Prozent.“

Mit seinem Duisburger Kollegen Achim Görres untersucht Spies das Wahlverhalten von Migranten. Wie die Rechtspopulisten teilten die Spätaussiedler traditionelle Werte. „Viele Russlanddeutsche sind sehr konservativ“, sagt Spies. Für Spätaussiedler aus Russland spiele auch der russlandfreundliche Kurs der AfD eine Rolle, sagt er. Nicht zuletzt habe die Flüchtlingskrise die Russlanddeutschen zur AfD getrieben.