Wolfsburg. „Rechtspopulismus in Europa“ ist das Thema eines Vortrags des Ex-Fraktionschefs der Linken im Bundestag, Gregor Gysi. Am Mittwoch

Irgendwie hat sich das Leben von Gregor Gysi nach seinem Rücktritt als Linken-Fraktionschef im Bundestag gar nicht so sehr entschleunigt. Diesen Eindruck gewinnt man, wenn man den gerade gewählten Präsidenten der Europäischen Linken erlebt. Gerade ist er auf dem Weg zu einer Podiumsdiskussion nach Bremen, um über Kapitalismus und der Frage, ob man diesen auch in den Sozialismus überführen kann, zu diskutieren. „Da ich 69 Jahre bin, geht mich das eigentlich auch nichts mehr an“, sagt er und lacht ins Telefon. Am Mittwoch kommt Gregor Gysi nach Wolfsburg. Dann geht es im Congress-Park (18.30 Uhr, Eintritt frei) um den Rechtspopulismus in Europa. Auch darüber sprach Dirk Breyvogel mit dem Politiker.

Der befürchtete Rechtsruck ist in den Niederlanden ausgeblieben. Geert Wilders erhielt weniger Zustimmung als in den Umfragen vorhergesagt. Was sind Ihre Lehren aus den Wahlen?

Klar ist, dass Ministerpräsident Rutte mit seiner harten Haltung gegenüber der Türkei rassistische Vorurteile bediente und Wilders und dessen Wählern den Wind aus den Segeln genommen hat. Ich finde es völlig legitim, Wahlkampf eines anderen Landes in dem eigenen Land zu verbieten. Das ist völkerrechtlich in Ordnung. Ich hätte die Einreise der türkischen Minister aber nicht verboten.

Sie sagen: Noch nie war das Verhältnis zwischen Europa und Türkei so angespannt wie heute. Was sind dafür die Gründe?

Die einst versprochenen Beitrittsverhandlungen waren ja schon vorher zum Scheitern verurteilt. Viel zu viele Staaten und auch deren Bürger wollten die Türkei nicht als Mitglied haben. Man hat also verhandelt, mit dem Wissen, dass es nicht zu einer Einigung kommen wird. Das war ein schwerer Fehler. Nun erleben wir, wie Präsident Erdogan einen Putschversuch, wer ihn warum auch immer veranlasste, zu einem Gegenputsch nutzt, um aus einer Demokratie eine Diktatur zu machen. Das ist furchtbar. Aber auch Deutschland wird ein Spiegel vorgehalten. Die über Jahrzehnte verfolgte falsche Integrationspolitik zeigt sich in dieser türkischen Staatskrise wieder beispielhaft. Wir können aber auch nicht gewalttätige Auseinandersetzungen der Türken in Deutschland untereinander dulden, müssen sie womöglich aber fürchten. In diesem Konflikt sind mehr Fragen offen als geklärt.

Ist Europa gescheitert, wenn die Franzosen Marine Le Pen an die Macht verhelfen?

Wenn Frau Le Pen Staatspräsidentin von Frankreich wird, ist die EU mausetot.

Das ist deutlich...

Ich will Ihnen das erklären. Es ist ja so: Die Erfahrungen auch aus anderen Ländern wie beispielsweise Ungarn und Polen zeigen, dass die Rechten, und ich meine die richtig Rechten, ihre Ankündigungen aus dem Wahlkampf auch wahr machen. Wer Le Pen wählt, will aus der EU raus. Denn das hat sie immer gesagt. Dann ist die Europäische Union Geschichte. Die EU ist in einem schlechten Zustand. Sie ist undemokratisch, unsozial, intransparent und noch vieles Negatives mehr. Und dennoch, der Gedanke an ihr Ende ist ein schrecklicher. Wir müssen die EU retten, denn entscheidend ist: Es gab noch nie einen Krieg zwischen zwei Mitgliedern der EU, während zuvor die Geschichte dieses Kontinents eine war, die von Kriegen zwischen diesen Staaten durchzogen war.

Leser haben im Umgang mit der AfD immer wieder darauf hingewiesen, die Bezeichnung rechtspopulistisch doch zu streichen. Warum ist die Partei aus Ihrer Sicht eine rechtspopulistische Partei? Und sind Sie dann ein Linkspopulist?

Der Begriff des Rechtspopulismus ist erfunden worden, als Jörg Haider in Österreich in Regierungsverantwortung kam. Man hätte die FPÖ auch als rechtsextrem bezeichnen können. Doch dann wäre für Medien und andere Politiker folgende Schwierigkeit entstanden: Wenn wir die Partei rechtsextrem nennen, können wir nicht mit ihren Vertretern reden. Wenn wir aber mit ihnen reden wollen und müssen, dann brauchten wir eine andere Bezeichnung. Jemand von der NPD wird ja nie in eine Talkshow eingeladen, die von der AfD in meinen Augen viel zu oft. So ist der Begriff entstanden.

Für mich ist kein Populist, wer in einfachen Sätzen spricht. Für mich ist ein Populist derjenige, der einfache Sätze benutzt, in dem Wissen, das der Inhalt falsch ist. Aber er versucht damit, Leute zu gewinnen. Das mag es auch gelegentlich bei den Linken geben. Aber viel seltener und bei mir nicht.

Die SPD scheint demoskopisch wachgeküsst. Wann ist der Kandidat Schulz auch für Ihre Partei als Koalitionspartner wählbar?

Was Martin Schulz anspricht, ist die Hoffnung, es entstünde bald wieder eine echte Sozialdemokratie. Daraus resultiert eine Begeisterung. Aber er machte die SPD kaputt, wenn er Versprechen, die er jetzt macht, nicht einhielte.

Und teilen Sie diese Hoffnung?

Schulz muss aufpassen, denn die Anti-Establishment-Haltung ist auch in Deutschland vorhanden. Ich gebe immer das Beispiel aus dem Jahr 2005, in dem Merkel und die Union im Wahlkampf eine Mehrwertsteuer-Erhöhung von zwei Prozent plakatierten und Schröders SPD sagte, dass es keine Erhöhung geben werde. Der Kompromiss in der Großen Koalition zwischen 0 und zwei Prozent lag dann bei drei Prozent. Härter kannst du die Leute nicht vor den Kopf stoßen. Wenn so etwas wieder passierte, weil Schulz ohne Zwang in eine Koalition ginge, die seine Ankündigungen einer Reform der Agenda 2010 nicht mitmachte, hätte das verheerende Folgen. Heute wird er als Retter gesehen, und nun muss er die Rolle auch ausfüllen.

In der Konsequenz dessen, was Sie sagen: Ist Rot-Rot-Grün nicht der logischste Weg mit Blick auf die angekündigten Kurskorrekturen bei den Sozialleistungen?

Natürlich. Meines Erachtens hat er auch anders keine Chance. Nur die Mehrheiten muss er dafür bekommen. Wenn wir die AfD überwinden wollen, können wir uns kein Weiter-So in einer Großen Koalition leisten. Wir brauchen wieder eine starke Opposition und eine Union, die wieder konservativ wird. Sie darf zwar weiter an ihrer Fortschrittlichkeit arbeiten, wenn es beispielsweise um die gleichgeschlechtliche Ehe geht. Ihre Aufgabe besteht darin, den Hauptteil aller konservativen Wähler mitzunehmen und nicht einen beachtlichen Teil auf der Strecke zu lassen. Wenn sie das nicht macht, sondern bei der SPD wildert, verkennt sie ihre historische Aufgabe.

Wie muss sich die Linke positionieren, um nicht zwischen den Positionen der Rechtsaußen und einer neuformierten SPD im Wahlkampf zerrieben zu werden?

Wir brauchen für die sozial Abgehängten in Deutschland, die schon mal uns, andere, keinen mehr, nun aber die AfD gewählt haben, einen sozialen Schub. Wir haben den größten Niedriglohnsektor in Europa, wir haben Millionen von prekären Beschäftigungsverhältnissen, wir brauchen mehr Steuergerechtigkeit auch für die Mitte und das Ganze muss im Bündnis mit den kleinen und mittelständischen Unternehmen geschehen.

Das versuche ich immer wieder, all meinen Linken zu erklären. Wenn meine Partei letzteres Bündnis nicht sucht, wird sie scheitern, weil 90 Prozent aller Arbeitsplätze dort geschaffen werden. Bei uns in Deutschland – und das nervt mich ungemein – bezahlt alles die Mitte. Der arme Teil kann es nicht und an die Höherbelastung der Vermögenden geht man nicht ran. Das muss sich ändern.