Berlin. Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, fordert eine pragmatische Flüchtlingspolitik – und attackiert Martin Schulz.

Winfried Kretschmann formuliert bedächtig, der baden-württembergische Ministerpräsident will sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Ganz gleich wie dramatisch sich die Lage auf der Welt – und in seiner grünen Partei – entwickelt. Das Interview führten Jochen Gaugele, Alexander Kohnen und Jorg Quoos.

Martin Schulz hat die SPD in Euphorie versetzt und den Grünen eine kleine Depression beschert. Wie findet Ihre Partei aus dem Umfragetief, Herr Kretschmann?

Ich rate zur Geduld. Die Mühen der Ebene werden Schulz noch vor der Wahl erreichen. Er ist sicher eine starke Persönlichkeit, kommt sehr authentisch und glaubwürdig rüber. Man muss erst einmal froh sein, wenn man gute Gegner hat. Das fordert einen selber heraus und kann dazu führen, dass wir einen guten und fairen Wahlkampf bekommen. Starke Gegner müssen nicht unter die Gürtellinie gehen, müssen nicht mit abstrusen Dingen kommen, sondern können auf ihr Kernprogramm setzen. Und dann hat man einen guten Wettbewerb. Wir Grünen müssen unsere Kernthemen – den Klimawandel oder den dramatischen Artenrückgang oder auch den Datenschutz in der digitalen Welt – wieder stärker in die Mitte der Gesellschaft rücken. Dann werden wir ein gutes Wahlergebnis bekommen.

Schulz setzt auf einen Wahlkampf um Gerechtigkeit. Geht es in Deutschland wirklich so ungerecht zu?

Nein, diese Einschätzung teile ich nicht. In welchem Land geht es denn gerechter zu als in unserem? Man kann alles verbessern, aber Schulz soll jetzt nicht so tun, als befände sich Deutschland in einem Jammertal. Deutschland ist ein gut funktionierender Rechtsstaat mit einem engmaschigen Sozialsystem. Wir sind ein Stabilitätsfaktor in Europa. Wir haben eine stabile Wirtschaft. Das kann sich allerdings schnell ändern ...

... und zwar wie?

Die Digitalisierung pflügt Gesellschaft, Politik und Wirtschaft um. Sie wird Arbeitsplätze freisetzen. Auf der anderen Seite haben wir Fachkräftemangel. Auf diese Megathemen kommt es an. Und darauf, Chancengerechtigkeit herzustellen. Unabhängig von sozialer Herkunft oder Geschlecht muss jede und jeder die gleiche Chance haben, das Beste aus seinem Leben zu machen. Das ist entscheidender als die alten Schlachten um Verteilungsgerechtigkeit, die Sozialdemokraten so gerne führen. Wir müssen vor Schulz keine Angst haben.

Ex-Außenminister Joschka Fischer warnte die Grünen vor einem Bündnis mit der Linkspartei. Die „Nationalisten von links“ dürften nicht in die Bundesregierung. Geben Sie ihm Recht?

Wir machen keine Ausschließeritis. Aber mit dem Kurs, den die Linke bisher im Bundestag fährt, ist sie kaum regierungsfähig. Die Linken tun so, als lebten wir noch in einer Nationalökonomie. Das ist aber längst vorbei. In der

Außenpolitik ist die Linkspartei auch von gestern. Mit der Haltung von Oskar Lafontaine und Sahra

Wagenknecht kann man die

Bundesrepublik Deutschland mit Sicherheit nicht regieren. Aber

es gibt ja auch Linke wie mein Kollege Bodo Ramelow. Mit ihm kann ich ordentlich zusammenarbeiten.

Für welche Flüchtlingspolitik stehen eigentlich die Grünen? Zuletzt haben sie im Bundesrat die Entscheidung der schwarz-roten Bundesregierung blockiert, die Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Das konnte auch Baden-Württemberg nicht verhindern …

Meine Linie ist die eines pragmatischen Humanismus. Wir müssen uns ehrlich machen in der Flüchtlingspolitik. Die vielen Flüchtlinge werden die Politik der nächsten Jahrzehnte in hohem Maße beschäftigen. Das ist kein Phänomen, das bald mal vorübergeht – auch wenn viele darauf hoffen. Wir haben 60 Millionen Flüchtlinge weltweit – das muss man sich einfach mal vorstellen. Und die Zahlen werden nicht geringer werden. Die Klimaflüchtlinge nehmen zu, weil ganze Landstriche verdorren. Darauf müssen wir uns einstellen.

Und zwar wie?

Wir müssen klar zwischen Flüchtlings- und Migrationspolitik unterscheiden. Flüchtlingen gewähren wir Schutz, wenn sie politisch verfolgt sind oder wenn sie aus Bürgerkriegsgebieten kommen. Das regeln das Grundgesetz und die Genfer Flüchtlingskonvention. Wer aus wirtschaftlichen Gründen kommt, den müssen wir schnell zurückschicken …

… aber daran hakt es ja.

Die freiwillige Rückführung klappt erstaunlich gut, darauf legen wir besonderen Wert. Auch die Abschiebung funktioniert – sie dauert nur viel zu lange. Das liegt aber nicht an den Ländern, sondern an der Bundesregierung und am Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Die Verfahren dauern immer noch viel zu lange, und fehlende Rückführungsabkommen mit Herkunftsländern sind ein großes Problem. Die Flüchtlingspolitik kann aber

nur gelingen, wenn wir endlich auch die Einwanderung regeln. Wir brauchen neben unserem liberalen Asylrecht endlich ein Einwanderungsgesetz, in dem wir festlegen, wer jenseits von Verfolgung und Unterdrückung nach Deutschland kommen kann. Wenn Millionen Menschen, die keinerlei Chance auf Anerkennung als Flüchtlinge haben, über das Asylrecht nach Deutschland kommen wollen, kann das nicht gut gehen. Das ruiniert auf Dauer das Asylrecht und führt zu furchtbaren

Ereignissen wie das Ertrinken Tausender Flüchtlinge im Mittelmeer.

Wie viele Zuwanderer wollen Sie nach Deutschland lassen?

Globale Aussagen wie eine Begrenzung auf 200 000 sind überhaupt nicht sinnvoll. Die Dimension hängt immer von unserer Integrationsfähigkeit und unseren wirtschaftlichen Erfordernissen ab. Die Menschen müssen ja in Arbeit und Brot einwandern – in unseren Wohnungsmarkt, unser Schulsystem und auch in unsere Rechtsordnung. Das muss man nach Lage der Dinge entscheiden. Kanzlerin Merkel hat gesagt: Wir schaffen das – aber wir schaffen es nicht allein. Daher plädiere ich auch beim Einwanderungsrecht für ein europäisch abgestimmtes Vorgehen.