Berlin. Hinweise auf ein Netzwerk des Attentäters von Berlin tauchen auf. Beweise aber fehlen Ermittlern bisher – und viele Fragen sind offen.

Der mutmaßliche Attentäter von Berlin ist tot – doch die Ermittlungen nach möglichen Hintermännern und Mitwissern laufen. Bisher bleiben viele Fragen offen, der Fall wirft Rätsel auf. Doch der wichtigste Zeuge, der Täter selbst, kann nicht mehr aussagen. Polizisten töteten Anis Amri bei einem Schusswechsel in Mailand.

War Amri tatsächlich der Attentäter von Berlin?

Der ermittelnde Generalbundesanwalt Peter Frank geht stark davon aus. Die Fingerabdrücke des Tunesiers sicherte die Polizei am Lenkrad und außen an der Tür des Lkw, mit dem der Islamist in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz gerast sein soll. Zudem fanden Polizisten Ausweisdokumente von Amri in einer Geldbörse unter dem Fahrersitz.

Neben diesen Beweismitteln passt auch die Motivlage des mutmaßlichen Angreifers: Verfassungsschutz und Polizei kannten ihn als gewaltbereiten Islamisten, der sich in der Vergangenheit bereits Waffen besorgen wollte und über Märtyrer-Aktionen fabulierte. Amri galt als sogenannter „Gefährder“. Die Behörden hatten über mehrere Monate sein Handy abgehört, ein Verfahren wegen Terrorverdachts lief in Berlin. Im Spätsommer hatte der marokkanische Geheimdienst die deutschen Behörden laut Medienberichten noch einmal vor Amri gewarnt. Was er konkret vorhatte, konnten jedoch offenbar weder die ausländischen noch die deutschen Sicherheitsleute genau sagen oder gar nachweisen. Die Ermittlungen im Fall Amri werfen auch das Licht auf mögliche Versäumnisse der Behörden vor dem Anschlag und während der Fahndung nach Amri in der Woche nach dem Attentat.

Handelte es sich um einen Einzeltäter – oder war er Kopf einer Terrorzelle?

Das ist ebenfalls Teil der laufenden Ermittlungen. Bisher gibt es keine Belege für Mittäter des Berliner Anschlags. Zudem ist unklar, wie eng Amri in das Terror-Netzwerk der Terrormiliz IS eingebunden war. Tunesische Behörden haben am Wochenende drei Männer festgenommen, die mit ihm in Kontakt gestanden haben sollen. Amris Heimatort Queslatia gilt als eine Hochburg der Salafisten, eine radikale und häufig politisch kämpferische Auslegung des Islam.

Einer der Festgenommenen ist der Neffe Amris. Er soll laut Medienberichten zugegeben haben, dass er mit Amri über eine Nachrichten-App in Kontakt gewesen sei. Amri habe gewollt, dass der Neffe dem IS die Treue schwöre. Ein Reporter der „Welt“ fotografierte bei Amris Familie zudem den Personalausweis des Tunesiers – das Dokument fehlte den deutschen Behörden, um Amri abzuschieben. Über Monate hatten tunesische Dienststellen Amris Papiere für eine Abschiebung nicht nach Deutschland geschickt.

Interessant ist: Laut tunesischem Innenministerium soll der Neffe ausgesagt haben, dass Amri ihm unter falschem Namen Geld geschickt habe, so dass er sich in Deutschland einer Gruppe anschließen könne, die sich „Abu-Walaa-Bataillon“ nenne. Der islamistische Prediger „Abu Walaa“ und Mitglieder seines Netzwerks waren im November in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen festgenommen worden. Sie gelten als Helfer des IS in Deutschland und stehen unter Terrorverdacht. Auch Amri soll Kontakt zu „Abu Walaa“ gehabt haben.

Dass Amri jedoch von Nordrhein-Westfalen nach Berlin gezogen war, spricht dagegen, dass die Islamisten-Gruppe in die Attentatspläne eingeweiht war, er wechselte offenbar die Szene. Gesichert scheint nur: Amri muss vor dem Attentat im Austausch mit Akteuren des IS gewesen sein – denn am Freitag war über die IS-Medienplattform „Amaq“ ein Handyvideo von Amri in Berlin aufgetaucht, in dem er in der Zeit vor dem Attentat auf den IS schwört und gegen die „Ungläubigen“ hetzt. Wie sehr der IS in die Planung des Anschlags eingebunden war, bleibt derzeit allerdings unklar. Der Terror-Plot mit dem Lastwagen ist auch als Einzeltäter machbar. In der Propaganda des IS werden Radikale genau auch zu solchen Taten animiert – losgelöst von einer Terror-Struktur sollen sie auf eigene Faust und mit „Waffen des Alltags“ losschlagen: Messer, Äxte, Lkw.

Wo war Amri in den Stunden nach dem Anschlag?

Auch das bleibt bisher ein Rätsel. Offenbar konnte sich Amri unbemerkt vom Tatort auf dem Weihnachtsmarkt entfernen. Überwachungsvideos einer Berliner Moschee in Moabit tauchten auf, die als Treffpunkt radikaler Islamisten gilt. Sie zeigen einen Mann in der Nacht nach dem Attentat. Kurz darauf meldete sich ein Mann, der sich auf dem Video erkannt hatte: Es ist nicht Anis Amri. Von Berlin aus flüchtete Amri über Frankreich – offenbar über Lyon und Chambéry – nach Italien. Ob er vom Berliner Hauptbahnhof startete oder mit dem Bus reiste, ist unklar. Amri war schon während der Zeit in Deutschland viel gereist, oft auch in Bussen des Unternehmens „Flixbus“. Amri nutzte in Deutschland mehrere Identitäten, benutzte gefälschte Pässe.

Warum flüchtete er nach Mailand – und wie gelangte er dorthin?

Ob Amri nach Mailand wollte, oder die Stadt nur Durchgangsort seiner Flucht war, ist derzeit nicht zu klären. Nur Szenarien sind denkbar: Amri kannte aus seiner Zeit in Haft Islamisten in Italien, wollte bei ihnen untertauchen. Oder Amri zielte darauf ab, von Mailand aus mit gefälschten Papieren per Fernbus nach Nordafrika zu gelangen – möglicherweise nach Marokko. Oder nach Libyen, um sich dort Einheiten des IS anzuschließen. Dass er in seine Heimat Tunesien fliehen wollte, ist unwahrscheinlich. Das Risiko wäre hoch gewesen, er wurde dort per Haftbefehl gesucht. Dass der Tunesier Helfer bei seiner Flucht nach Mailand hatte, ist bisher nicht bekannt.

Ist die Pistole, die man in Mailand bei Amri fand, die Waffe, mit der der polnische Lkw-Fahrer getötet wurde?

Laut italienischen Medienberichten soll die Waffe dieselbe sein. Die Sicherheitsbehörden bestätigen dies noch nicht. Mit Hilfe kriminaltechnischer Untersuchungen ist dies in den kommenden Tagen jedoch gut zu ermitteln, etwa durch Spuren, die durch den Lauf einer Waffe an den Patronen entstehen – eine Art Fingerabdruck einer Pistole.

War Amri schon an früheren Anschlägen beteiligt?

Dafür gibt es keine Belege. Die Hamburger Polizei prüft derzeit, ob Amri auch einen 16-Jährigen im Oktober am Alsterufer ermordet hat. Der IS hatte den Mord für sich reklamiert, allerdings vage und ohne Täterwissen. Auch Hinweise auf Amri fehlen, lediglich die brutale Vorgehensweise würde dafür sprechen. Vielversprechende Spuren auch zu möglichen anderen Tätern fehlen der Polizei bisher.

Plante Amri neuen Terror?

Dafür gibt es derzeit keine Hinweise. Es bleibt ein Rätsel, warum Amri nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt floh – und nicht weiter mordete, bis er im „Kampf“ gestorben wäre. Das jedenfalls ist eher typisch für Dschihadisten. Dass Amri sich nach Italien absetzte, wirft zumindest die Frage nach weiteren Gewalttaten auf.