Unzählige vor allem kleine Beobachtungsstudien produzieren eine Flut von zweifelhaften Korrelationen und blödsinnigen wie kurzlebigen Risikofaktoren.

Es ist die größte Gesundheitsstudie der deutschen Geschichte: die Nationale Kohorte (weil weder das Nationale noch die militärisch anmutende Kohorte besonders gut ankamen, heißt sie mittlerweile nur noch Nako). Über 20 bis 30 Jahre sollen 200.000 erwachsene Bundesbürger regelmäßig medizinisch untersucht werden und Fragebögen zu ihrem Lebenswandel ausfüllen. Das Ziel: statistische Zusammenhänge zwischen Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Demenz und Risikofaktoren herzustellen und plausibel zu belegen. Der niedersächsische Nako-Stützpunkt in Hannover wird vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig geleitet.

Als „absolut notwendig“ bezeichnete der Braunschweiger Neurochirurg Christos Pantazis, der für die SPD im Gesundheitsausschuss des Landes sitzt, die Nako kürzlich bei einer Diskussionsrunde im Haus der Wissenschaft in Braunschweig. So seien die Risikofaktoren für Herzinfarkte durch solche Studien identifiziert worden.

Die Soziologin Silja Samerski von der Universität Bremen hingegen betrachtet die Studie mit Skepsis. Sie kritisierte einen Trend der Medizin zur Statistik, beklagte das „Verschwinden des Individuums aus der Medizin“ und fragte: „Welche Auswirkungen hat das auf das Arzt-Patienten-Verhältnis?“ – zumal die Praxis sich durch statistisch unterfütterte Leitlinien von der „klinischen Erfahrung des einzelnen Arztes“ entferne.

Das allerdings ist Sinn und Zweck nicht nur von Beobachtungsstudien wie der Nako, sondern der evidenzbasierten Medizin allgemein. Ihre klinische Erfahrung hat Ärzte über Jahrhunderte nicht davon abgehalten, von der Wirksamkeit des Aderlasses überzeugt zu sein. Die Erfahrung allein ist als Grundlage für medizinische Therapien denkbar schlecht geeignet, denn ohne Kontrolle und Vergleich mit anderen Fällen fliegt sie blind. Entsprechend warnte auch Professor Gérard Krause vom HZI, der das Studienzentrum Hannover leitet, davor, „dass der einzelne Arzt sich anmaßt, seine Patienten ohne wissenschaftliche Fundierung zu diagnostizieren“.

Dennoch ist Samerskis Kritik teils berechtigt. Die Soziologin erforscht die Auswirkungen von Beratungen, in denen Menschen über genetische Risiken informiert werden. Die Beratenen seien durch Prozentangaben zu erhöhtem Risiko für Krebs oder andere Krankheiten teils völlig überfordert und verunsichert. Dass die Schauspielerin Angelina Jolie sich wegen eines Risiko-Gens für Brustkrebs vorsorglich unter großem Medienrummel beide Brüste abnehmen ließ, habe die Verunsicherung noch verstärkt. „Vor allem schwangere Frauen werden heutzutage mit Risiken geradezu bombardiert“, beklagt Samerski.

Tatsächlich produzieren unzählige vor allem kleine Beobachtungsstudien, insbesondere im Bereich der Ernährung und des Lebensstils, eine Flut von zweifelhaften Korrelationen und ebenso blödsinnigen wie kurzlebigen „Risikofaktoren“. Die marktschreierische Verbreitung neuester Tomaten-gegen-Krebs- oder Glutamat-macht-krank-Schlagzeilen in den Medien trägt sicher dazu bei, dass sich Menschen „vom eigenen Gesundheitsbefinden entfernen“, wie Samerski mit Bezug auf statistische Risiken anmerkt.

Doch die Nako und andere seriöse wissenschaftliche Untersuchungen sind wahrlich das falsche Ziel dieser berechtigten Kritik. „Die Studie produziert keine Risikofaktoren, sie entdeckt sie“, stellte Krause klar. Ängstliche Menschen neigten ohnehin zur Angst, da sei es besser, wenn sie sich wenigstens vor echten Risiken fürchteten.

Die Konsequenz daraus, dass viele Menschen Risiko-Informationen nicht richtig einschätzen können, kann nicht daraus bestehen, auf die Erforschung von Risikofaktoren zu verzichten – und dabei manchmal auch Entwarnung zu geben, wie bei der Nako durchaus zu erwarten ist. Das Problem im Fall der Genetik-Beratungen ist nicht das Wissen um die genetisch bedingten Risiken für bestimmte Krankheiten, sondern die Beratung: Unzureichend geschulte Klienten treffen auf unzureichend geschulte Berater. Die berechtigte Kritik der Soziologin sollte dazu führen, die Praxis solcher Beratungen und den Statistik-Unterricht an der Schule zu überdenken, nicht die medizinische Forschung. Denn Unwissenheit ist vor Angst ein denkbar schlechter Schutz.