Berlin. Sie ist der Knackpunkt in den Jamaika-Verhandlungen: Die Frage, ob Flüchtlinge ihre Familien nachholen dürfen.

In den Sondierungen zwischen CSU, CDU, Grünen und FDP gipfelt das, was die Politik seit 2015 prägt: ein Richtungsstreit über die Frage, wie Deutschland künftig mit Flüchtlingen und Zuwanderern umgeht. Wer darf und soll kommen? Und wie viele? Das Nadelöhr dieser Debatte: der Familiennachzug von Menschen, die in Deutschland als „subsidiär Schutzbedürftige“ vorerst bleiben dürfen.

Über wen reden wir? In Deutschland gewährt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) verschiedene Formen des Schutzes für Menschen, die hier Asyl beantragen: Wer durch den Staat in seinem Heimatland politisch verfolgt wird, erhält drei Jahre Schutz nach dem deutschen Grundgesetz. Das trifft 2017 laut Bamf bisher nur auf etwa 4000 Schutzsuchende zu. Die von Deutschland unterzeichnete Genfer Flüchtlingskonvention fasst Asyl weiter. Schutz erhält auch, wer aufgrund seiner „Rasse“, Religion oder Nationalität durch nicht-staatliche Gruppen verfolgt wird – etwa Terrorgruppen oder Clans. In Konflikten in Irak, Syrien, aber auch mehreren afrikanischen Staaten greift genau das. So erhielten im laufenden Jahr rund 120 000 Flüchtlinge diesen Schutzstatus. Wer in diese beiden Gruppen fällt, darf schon jetzt seine enge Familie nachholen – etwa Ehepartner, minderjährige Kinder (Priorität in den Verfahren sollen demnach etwa prekär Untergebrachte und Kranke, also Härtefälle, haben). Diese größte Gruppe der Flüchtlinge ist von der aktuellen Debatte also gar nicht betroffen.

Der Familiennachzug ist bis März 2018 ausgesetzt

Das Bamf stellte in diesem Jahr bisher aber auch rund 100 000 Entscheidungen für „subsidiären Schutz“ aus – vor allem Syrer und Iraker. Niemand aus dieser Gruppe ist laut Bamf politisch verfolgt, aber jedem droht schwerer Schaden, würde man sie oder ihn zurückschicken: Folter, Todesstrafe, Gefahr durch Kriegshandlungen. Diese Menschen sollen nur auf Zeit hier bleiben, jedes Jahr wird die Gefahrenlage laut Asylrecht individuell geprüft. Die Gruppe darf Familien nicht nachholen.

Diese „Aussetzung des Familiennachzugs“ hatte die alte Regierung von Union und SPD unter dem Druck der hohen Zahl an neuen Flüchtlingen, die über die Balkanroute kamen, nach den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht im März 2016 beschlossen. Allerdings vorerst für zwei Jahre. Im März 2018 endet diese Frist. Die CSU will sie unbedingt auf unbestimmte Zeit verlängern, und damit signalisieren, dass eine neue Regierung den Zuzug von Migranten und Flüchtlingen hart begrenzt. Die Grünen sind dagegen, pochen auf den Schutz der Familie auch für Flüchtlinge und setzen auf eine bessere Integration, wenn ein Vater seine Frau und Kinder bei sich hat.

Nur, wie viele kommen, wenn die Frist endet? Auch darüber wird gestritten – jede Partei argumentiert mit eigenen oder passenden Schätzungen. Politiker der Union warnten im Wahlkampf noch vor Hunderttausenden. Die Grünen sprachen von nur 70 000 Syrern und Irakern. Die Bundesagentur für Arbeit nannte einen „Nachzugs-Faktor“ von 0,34 Angehörigen pro Flüchtling. Das Bamf rechnete 2016 mit 0,7 bis 1,1 Angehörigen bei Syrern und etwa 1,3 bis 1,9 Menschen pro Pakistaner, der „subsidiär“ unter Schutz steht. Meist werden Asylbewerber aus Pakistan jedoch ohnehin gleich abgelehnt, wie auch viele Menschen aus Ghana, Nigeria oder den Maghrebstaaten Tunesien, Algerien und Marokko. Relevant bleibt beim Familiennachzug vor allem die Gruppe der Syrer. Tausende klagen derzeit vor deutschen Gerichten gegen die Entscheidung, nicht als „echter Flüchtling“, sondern nur als „Subsidiärer“ zu gelten. Viele klagen mit Erfolg. Sie können ihre Familien nachholen.

Es ist eine Rechnung mit vielen Variablen. Viele halten den Faktor 0,7 bis 1,0 Angehörige pro Flüchtling für politische Verhandlungen angebracht. Das Auswärtige Amt schätzte im Sommer, dass 2018 zwischen 200 000 und 300 000 Syrer und Iraker zusätzlich als Angehörige nach Deutschland reisen könnten. Eingerechnet sind geschätzte 120 000 Fälle, die ab März hinzukommen, falls die Aussetzung des Familiennachzugs für „Subsidiäre“ endet.

Bei 130000 Visa liegt das Limit, hieß es im Oktober

Zuständig für die Visa zum Familiennachzug sind die deutschen Botschaften im Ausland. 2016 erteilten die Vertretungen etwa 50 000 Visa für syrische und irakische Mütter, Väter und Kinder zum Familiennachzug. Allein in der Botschaft in Beirut waren im Sommer 2017 aber etwa noch 100 000 Anfragen für Visa-Prüfungen von Angehörigen in der Warteschleife. Die Diplomaten kommen nicht mehr hinterher. Im Oktober hieß es nach Informationen unserer Zeitung in der Bundesregierung: 2018 können dort bis zu 130 000 Visa zum Zwecke des Familiennachzugs erteilt werden. Mehr lassen die Kapazitäten in den Vertretungen nicht zu. Es wäre ein Limit, das vorerst gilt. Egal, was die Sondierer von Union, FDP und Grünen beschließen.