Berlin. Menschenrechtler Peter Steudtner hat das Gefängnis in der Türkei verlassen. Gerhard Schröder reiste als Vermittler zu Erdogan.

„Freude, Erleichterung, Jubel“, sagt Frank Esch, fühle er an diesem Tag. Der 49-Jährige schließt die dunklen Holztüren zur Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer Berg auf, einige Meter weiter an einem Zaun hängen Zeichnungen, die Peter Steudtner und weitere Gefangene zeigen, die aus politischen Gründen in der Türkei in Haft sitzen. Es ist ein froher Tag für den Geschäftsführer der Gemeinde: Steudtners Bild kann abgenommen werden. In der Nacht zu Donnerstag hatte ein türkisches Gericht den Berliner Menschenrechtler überraschend aus der Untersuchungshaft entlassen.

Am 5. Juli war Steudtner bei einem Seminar unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung festgenommen worden. Seitdem saß er
im türkischen Hochsicherheitsgefängnis Silivri nahe Istanbul ein. Nach 112 Tagen Untersuchungshaft konnte sich der 45-Jährige am Mittwoch beim Prozessauftakt erstmals zu den Vorwürfen äußern. Und dann ging alles ganz schnell: Am Abend forderte der Staatsanwalt die Aufhebung der Untersuchungshaft, kurz vor Mitternacht ordnete das Gericht die Entlassung an. Noch am Donnerstag kehrte Steudtner nach Deutschland zurück – auf eigenen Wunsch abseits der Öffentlichkeit. Steudtners Lebensgefährtin, Magdalena Freudenschuss, äußerte sich schon vor seiner Heimkehr „zutiefst erleichtert“. Neben Steudtner waren sieben weitere Angeklagte entlassen worden. Nur der Amnesty-International-Vorsitzende der Türkei, Taner Kilic, blieb in Haft.

Schröder kennt Erdogan gut

Offiziell beruht die Freilassung Steudtners auf einer unabhängigen Entscheidung des türkischen Gerichts – doch tatsächlich hat Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) hinter den Kulissen die Wende eingeleitet. Schröder war im Regierungsauftrag als Vermittler in der Türkei unterwegs, wie Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) unserer Zeitung bestätigte. Vor vier Wochen ist der Altkanzler demnach zum türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan gereist, um sich für die Freilassung Steudtners und anderer inhaftierter deutscher Staatsbürger einzusetzen. Die Initiative ging von Gabriel aus, mit Kanzlerin Angela Merkel stimmte sich der Außenminister ab, auch sie traf sich mit dem Altkanzler.

Nachdem Schröder bei Erdogan vorstellig geworden war, führte Gabriel mit seinem türkischen Außenminister-Kollegen die Gespräche weiter. Er sei dankbar für die Vermittlung Schröders, es sei ein erstes Zeichen der Entspannung, erklärte Gabriel.

Aber warum bat der Außenminister ausgerechnet den Altkanzler um Hilfe? Schröder hat als einer der wenigen aus der deutschen Politik noch ein gutes Verhältnis zu Erdogan, ihm vertraut der Staatspräsident. Bei seinem Abschiedsbesuch als Kanzler 2005 dankte ihm Erdogan: „Die Türkei vergisst nie ihre Freunde, die in kritischen Zeiten zu ihr gehalten haben“, sagte er. Dass die türkische Regierung jetzt alle Verabredungen eingehalten habe, sei ein gutes Zeichen für die Verbesserung der sehr angespannten Beziehungen, meinte Gabriel. Jetzt müsse man auch bei anderen Inhaftierten vorankommen.

Außenpolitisch sei die Freilassung „ein gutes Signal, mehr aber auch nicht“, sagte SPD-Chef Martin Schulz unserer Zeitung. Nach wie vor gelte: „Die Türkei muss ihre Politik grundlegend
ändern. Die Europäische Union hat Interesse an engen Beziehungen zur Türkei. Die türkische Regierung darf Rechtsstaatlichkeit und internationale Kooperationen nicht weiter infrage stellen.“ Die Freilassung von Steudtner sei eigentlich eine Selbstverständlichkeit, so Schulz. Es sei offensichtlich, dass er unschuldig in Haft saß. „Die Konsequenz sollte nun sein, dass die türkische Justiz das ganze Verfahren einstellt.“

Denn auch wenn der 45-Jährige nun wieder zurück in seiner Heimat ist, der Prozess in der Türkei geht weiter. Steudtner und sein schwedischer Kollege Ali Gharavi sind nun zwar frei, mit einem Freispruch ist das aber nicht zu verwechseln: Der Prozess gegen sie und die neun türkischen Menschenrechtler wird fortgesetzt, der nächste Verhandlungstag ist der 22. November.

Fahndung durch Interpol?

Zwar werden Steudtner und Gharavi mit Sicherheit weder für ein Urteil nach Istanbul zurückkehren noch eine eventuelle Haftstrafe antreten. Probleme könnte die türkische Regierung ihnen aber im Fall einer Verurteilung trotzdem bereiten: Wie im Fall des türkischstämmigen deutschen Autors Dogan Akhanli könnte sie
die beiden Menschenrechtstrainer theoretisch per Red Notice über Interpol zur Fahndung ausschreiben lassen.

Steudtners Gemeinde hatte seit seiner Inhaftierung jeden Tag gebetet für seine Rückkehr. Auch am Donnerstagabend kamen Gläubige zusammen. Diesmal überwog die Freude über die gute Nachricht aus der Türkei. Und doch gedachten sie in den Fürbitten nicht nur Steudtner, sondern etwa auch der Journalisten Mesale Tolu und Deniz Yücel. Sie gehören zu den Deutschen, die weiterhin aus politischen Gründen in der Türkei inhaftiert sind.