Berlin. Parteienforscher Eckhard Jesse spricht über Merkels Wahlsieg und den Erfolg der AfD.

Eckhard Jesse von der Technischen Universität Chemnitz ist Politologe und einer der führenden Extremismusforscher des Landes. Mit ihm sprachen Karsten Kammholz und Theresa Martus.

Herr Jesse, was überrascht Sie am meisten bei diesem Wahlausgang?

Im Kern überrascht mich dieser Wahlausgang nicht. Es war klar, dass die beiden großen Parteien Stimmen einbüßen würden. Sowohl Union als auch SPD konnten ihre Wählerschaft nicht voll mobilisieren, weil im Grunde vorher klar war, wer von beiden stärkste Kraft wird.

Die Union hat gewonnen,

aber ist sie auch Wahlsieger?

Die Union ist natürlich eindeutig die erste Partei, aber sie wird es schwer haben, eine Regierung zu bilden. Die SPD hat erklärt, in die Opposition gehen zu wollen. Dann bleibt eine Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen übrig. Aber zwischen Angela Merkel und FDP-Chef Christian Lindner stimmt die Chemie nicht. Und die Grünen können überhaupt nicht mit der FDP und der CSU. Auch wenn es schwierig wird: Es kann nur diese Dreierkonstellation geben. Es ist wieder wie 2013 ein Pyrrhussieg für die Kanzlerin.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat von Beginn auf

das Thema Gerechtigkeit

gesetzt – offenbar die falsche

Strategie.

Klar, das war die falsche Strategie. Den Deutschen geht es wirtschaftlich gesehen gut. Es sind andere Themen, die die Bürger bewegen. Schulz hat nicht verstanden, authentisch und glaubwürdig zu sein. Er hat sich den Wählern geradezu angebiedert. Er hat versucht, sich als Repräsentant des kleinen Mannes darzustellen. Das kommt bei den sogenannten kleinen Leuten überhaupt nicht gut an. Schulz hat einen kläglichen Wahlkampf geboten. Er hat mehr Fehler gemacht als Steinmeier 2009 und Steinbrück 2013.

Die AfD hat es in den Bundestag geschafft. Ist das eine Zäsur in der deutschen Geschichte?

In gewisser Weise ja, weil die AfD zum ersten Mal in den Bundestag einzieht. Gleichzeitig muss man aus europäischer Sicht sagen, dass hier eine Normalisierung des Parteiensystems stattfindet. Was nun in Deutschland geschieht, dass also eine rechtspopulistische Partei ins nationale Parlament kommt, hat es in anderen europäischen Staaten längst gegeben. Deutschland war bisher eine Ausnahme.

Gehört die Partei nun zum festen politischen Spektrum?

Das muss nicht der Fall sein. Die AfD ist jetzt über Protestwähler stark geworden, und das kann in vier Jahren schon ganz anders aussehen. Es gibt jedenfalls kein Stammwählerpotenzial der AfD. Viel von ihrer Zukunft hängt davon ab, wie sie im Bundestag auftritt: ob sie Fundamentalopposition ist oder vernünftige Politik macht. Die Partei ist sehr heterogen, es wird möglicherweise viel internen Streit geben.