Abensberg. Beim TV-Duell bleibt der Kanzlerkandidat hinter den eigenen Erwartungen zurück, doch gibt er sich kämpferisch.

Am Tag danach dreht Martin Schulz richtig auf. „Wir sind ein reiches Land“, ruft der SPD-Kanzlerkandidat ins Mikrofon, „aber wir sind auch ein ungerechtes Land.“ Massive Einkommensunterschiede spalteten die Republik, klagt Schulz und sticht mit dem Zeigefinger immer wieder in die Luft. Die Kanzlerin wolle „nur die Vergangenheit verwalten“, sie brüste sich dabei mit den Erfolgen der SPD. Aber, versichert Schulz und ballt die Faust, nach dem 24. September, nach dem Einzug ins Kanzleramt, „machen wir das selber“.

Der SPD-Chef hat das Jackett längst abgelegt, er redet sich in Rage hier beim Gillamoos-Volksfest im niederbayerischen Abensberg. Es klingt, als müsse jetzt alles heraus, die Wut, der Zorn, die Enttäuschung, die sich aufgestaut haben seit dem Abend zuvor. Erst zwölf Stunden ist es her, dass sich Schulz und die Kanzlerin, die er jetzt so angeht, in einem Fernsehstudio in Berlin gegenüberstanden. Der Kanzlerkandidat hat sich ordentlich geschlagen im TV-Duell. Und doch hat er, so weit man am Montag weiß, beim wichtigsten Wahlkampfereignis sein Ziel verfehlt.

Nicht er, sondern Angela Merkel hat das Duell nach Ansicht der Zuschauer gewonnen, so zeigen es erste Umfragen: Mit 55 zu 35 Prozent lag die Kanzlerin laut ARD vorne. Eine ZDF-Befragung sieht die Kanzlerin ebenfalls in Führung, wenn auch nicht ganz so deutlich.

Dabei hatte Schulz Großes vor am Sonntag: Vor einem Millionenpublikum wollte er die Kanzlerin stellen, ihre Politik entlarven und sich selbst als den zwingenden Nachfolger im Kanzleramt präsentieren. Das Duell sollte der Wendepunkt werden, jetzt endlich sollte die Aufholjagd der SPD beginnen. So hatte es Schulz selbst öffentlich erklärt, angefeuert von seinen Genossen.

Gemessen daran war der Abend kein Erfolg. „Das war bestimmt nicht der Start für eine Aufholjagd von Schulz“, bilanziert der Stuttgarter Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider. Sicher, Experten und professionelle Beobachter hatten teilweise einen besseren Eindruck vom Kanzlerkandidaten als die Fernsehzuschauer. Im Umfeld des SPD-Chefs heißt es, Schulz habe sich auf Augenhöhe mit Merkel überzeugend behauptet: „Unsere Anhänger sind alles andere als enttäuscht“.

Doch am Gesamtergebnis ändert das nichts: Wenn sich die Demoskopen nicht völlig irren, hat die SPD drei Wochen vor der Bundestagswahl einen empfindlichen Dämpfer hinnehmen müssen. Die vermeintlich letzte Chance, an die Schulz seit Wochen alle seine Hoffnungen knüpfte, konnte er nicht so nutzen wie gedacht. Der Rückstand zur Union, der in Umfragen 13 bis 18 Punkte ausmacht, scheint nun nicht mehr aufholbar zu sein. Die Kanzlerin, die noch nie ein Fernsehduell gewonnen hatte, liegt in der TV-Bewertung selbst bei den unentschiedenen Wählern, auf die es Schulz abgesehen hatte, klar in Front. Überzeugungskraft, bessere Argumente, Kompetenz – in den meisten Feldern schnitt Merkel deutlich besser ab.

Schulz selbst klagt bei seinem Auftritt auf dem Gillamoos-Fest, viele drängende Fragen seien beim Duell gar nicht gestellt worden. Hier im stickigen Bierzelt scheint er sich wieder wohler zu fühlen als im Studio mit dem engen Korsett der Gesprächsregie. Der Kanzlerkandidat steigt auf eine Bierbank, winkt in die Menge und hält eine leidenschaftliche Rede. Die 90 Minuten im Fernsehen hätten nicht gereicht, um alle Fragen zu beantworten, etwa zur Bildung oder zur Gerechtigkeit, ruft er.

Aber das war es wohl nicht allein. Schulz konnte beim Duell zwar inhaltlich einige Punkte machen, aber im Gesamtbild überzeugte er das Publikum offenbar nicht so wie ersehnt. Auch deshalb, weil Schulz vor den Kameras weit mehr Stresssignale aussendete als die routiniertere Merkel und er teilweise sogar fahrig wirkte. Der Herausforderer schwankte zwischen Angriffswillen und den Zwängen der SPD-Regierungsbeteiligung, die allzu harte Kritik an Merkels Kurs verbietet; auch sein persönliches Harmoniebedürfnis bremste ihn. Hinter der Kämpferpose, mit der der Kanzlerkandidat die Glaubwürdigkeit Merkels in Zweifel zog, zeigte sich ein konsensverliebter Politiker, der im Europäischen Parlament führender Teil einer informellen Großen Koalition war. Steuert Schulz jetzt auch in Berlin darauf zu? Nach diesem Duell dürften die Spekulationen über eine erneute Große Koalition nicht geringer werden. Die Tür hat Schulz bewusst nicht zugeschlagen: Geschieht nicht noch ein Wunder, dürfte die Fortsetzung von Schwarz-Rot für die SPD die einzige Regierungsperspektive sein, jetzt mehr denn je. Auch wenn führende Sozialdemokraten einer Großen Koalition im Wahlkampf eine Absage erteilen, um die eigene Basis nicht zu entmutigen, so ist es kein Geheimnis, dass eine Reihe Spitzengenossen auf die Neuauflage dieser Koalition unter Merkels Führung schielen.

Der Ausblick auf die Oppositionsbank, womöglich allein an der Seite von Linkspartei und AfD, gilt in der Parteispitze schon als „Horrorvision“. Und nur in der Koalition gibt es ausreichend Ämter zu verteilen – sonst müsste fast eine ganze Parteigeneration in den politischen Vorruhestand. CSU-Mann Karl-Theodor zu Guttenberg spottete schon am Sonntagabend, Schulz habe im Fernsehen bei seiner künftigen Chefin eine „Bewerbungsrede als Außenminister“ gehalten. Nicht ausgeschlossen, dass Schulz im Fall der Fälle den Posten tatsächlich übernähme – auch wenn er eigentlich dem Amtsinhaber Sigmar Gabriel eine Jobgarantie gegeben haben soll für den Fall, dass das Auswärtige Amt wieder an die SPD fällt. Wie sehr das Verhältnis der beiden Freunde im Wahlkampf gelitten hat, ist unklar, unbeschädigt ist es nicht. Schon lässt Schulz vor Vertrauten durchblicken, Gabriel habe ihm als Vorsitzendem eine schwer gebeutelte, zerrissene Partei hinterlassen. Das klingt, als habe hinter den Kulissen die Suche nach den Schuldigen für die drohende Wahlniederlage begonnen. Wer sich wie retten kann, ist offen. Fällt Schulz noch hinter das Wahlergebnis von 2013 (25,7 Prozent) zurück, muss die SPD in die Opposition, dürfte seine Wiederwahl als Parteichef im Dezember infrage stehen.