Istanbul. Der Präsident treibt die „Säuberung“ der Türkei voran. Eine Oppositionelle sagt in Braunschweig: Er jagt Kritiker.

Istanbul. Mehr als ein halbes Jahr nach dem Putschversuch in der Türkei hat Präsident Recep Tayyip Erdogan erneut Tausende Staatsbedienstete per Dekret entlassen. Nach dem in der Nacht zu Mittwoch veröffentlichten Erlass müssen 4464 Beamte ihre Posten räumen. Im Zusammenhang mit dem Putschversuch sitzen nun mehr als 40 000 Menschen in U-Haft, rund 100 000 Staatsbedienstete wurden entlassen.

Mehr als die Hälfte der nun Entlassenen ist Teil des Netzwerks „Akademiker für Frieden“, das sich mit einer Petition im vergangenen Jahr für ein Ende der Militäreinsätze in den kurdischen Gebieten einsetzte. Gut 1100 Wissenschaftler hatten den ursprünglichen Aufruf vor einem Jahr unterzeichnet, in dem der Regierung eine „Vernichtungs- und Vertreibungspolitik“ in den südosttürkischen Kurdengebieten vorgeworfen wurde. Die Regierung geht seitdem hart gegen Unterzeichner des Aufrufs vor. Mehrere von ihnen wurden vorübergehend festgenommen. Im Mai war der Initiative der Aachener Friedenspreis verliehen worden.

Die Lehrerin und Gewerkschafterin Sakine Esen Yilmaz hat die Petition unterschrieben. Am Mittwoch war sie in Braunschweig, sprach vor 130 Lehrern aus unserer Region. „Einige der Kollegen, die nun entlassen wurden, kenne ich persönlich“, sagte die Oppositionelle.

„Ich bin traurig, wütend. In der Türkei gibt es keine Rechtsstaatlichkeit mehr.“
„Ich bin traurig, wütend. In der Türkei gibt es keine Rechtsstaatlichkeit mehr.“ © Sakine Yilmaz, oppositionelle Lehrerin, die in Deutschland Asyl beantragt hat

Bis zum Frühsommer 2016 war Yilmaz die Generalsekretärin der Lehrergewerkschaft Egitim Sen, einer der wenigen demokratisch verfassten Gewerkschaften in der Türkei. Die 39-jährige Kurdin war auch nationale Frauensekretärin der Gewerkschaft, die etwa 120 000 Lehrer an Schulen und Hochschulen vertritt. „Ich bin traurig, wütend. In der Türkei gibt es keine Rechtsstaatlichkeit mehr“, sagte sie. Yilmaz setzt sich gegen die Islamisierung des Schulsystems und für Frauenrechte ein.

In der Türkei drohen der Oppositionellen 22 Jahre Haft. Yilmaz tauchte unter, floh nach Deutschland, beantragte hier Asyl und lebt aktuell in Köln. Zuvor wohnte die einst hochrangige Gewerkschafterin in einem Erstaufnahmelager in Essen. Ihren Mann, der ebenfalls Lehrer ist und weiterhin in der Türkei lebt, hat sie seit sechs Monaten nicht mehr gesehen.

Auch in Deutschland wird sie von Erdogan-Anhängern angefeindet, sagte sie. Dennoch will sie aufrütteln, kämpfen. In den sozialen Netzwerken ist sie sehr aktiv. Dort wird sie von Erdogan-Anhängern als „Verräterin“ beschimpft. Sie reist durch Deutschland, berichtet über die Situation in ihrem Heimatland. Dass erst kürzlich wieder – in Stadthagen – bei einem ihrer Vorträge Erdogan-Anhänger massiv störten, nimmt sie hin. „Wir haben nur eine Möglichkeit: Wir müssen auf der Straße protestieren und das Ausland über die Vorgänge in der Türkei informieren“, sagte sie zum Widerstand gegen Erdogan und dessen Partei AKP in und außerhalb der Türkei. „Wir müssen den Druck erhöhen.“

Yilmaz, die auf Einladung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) nach Braunschweig kam, saß zweimal im Gefängnis: 2009 wurde sie mit sechs Monaten und 2012 mit zehn Monaten Haft bestraft. Die Anklage warf ihr Unterstützung terroristischer Organisationen vor. Durch internationale Proteste und regelmäßige Prozessbeobachtermissionen europäischer Bildungsgewerkschaften war es 2013 gelungen, dass Yilmaz aus der Haft zunächst freikam – allerdings unter der Auflage, die Türkei nicht verlassen zu dürfen.

Während ihrer Haftzeit trat sie mit anderen in den Hungerstreik. „Ich habe gesehen, wie Menschen abgemagert sind.“ Über die Härten, die sie selbst während der Haft erdulden musste, schwieg Yilmaz hingegen weitgehend.

„Ich habe mir nie vorstellen können, die Türkei zu verlassen. Nicht als meine Heimat, und nicht als das Land, in dem ich politisch arbeite“, erklärte die Oppositionelle. Sie hofft weiterhin, in die Türkei zurückkehren zu können. Dass Erdogan seit Verhängung des Ausnahmezustands in Folge des Putschversuches vom Juli 2016 per Dekret regieren kann, nimmt ihr diese Hoffnung nicht, wie sie im Gespräch sagte. Erdogans Dekrete haben Gesetzeskraft und gelten ab ihrer Veröffentlichung. Der bereits zweimal verlängerte Notstand gilt nach derzeitigem Stand bis zum 19. April – vorerst. „Erdogan jagt seine Kritiker“, sagte Yilmaz.

Den Deutschen gegenüber sei sie dankbar. Sie kündigte an, ein Foto, dass sie mit den GEW-Mitgliedern in Braunschweig samt türkischer und deutscher Gewerkschaftsflagge zeigt, bei Facebook posten zu wollen. „So sehen Inhaftierte und Entlassene in der Türkei, dass sie nicht alleine sind, dass sie Mitstreiter haben.“

Gegenüber der Bundesregierung und Kanzlerin Angela Merkel jedoch äußerte sie auch Kritik. So kritisierte Yilmaz, dass Deutschland Waffen an die Türkei verkauft habe. „Diese Waffen wurden in den Kurdengebieten eingesetzt“, sagte sie. Zudem solle Kanzlerin Merkel Missstände in der Türkei deutlicher als bisher offen ansprechen.

Die USA und die Türkei wollen nach Angaben aus Ankara in einigen syrischen Städten unterdessen gemeinsam gegen die Extremistenmiliz IS vorgehen. Dies hätten US-Präsident Donald Trump und sein türkischer Kollege Recep Tayyip Erdogan in einem Telefonat vereinbart, hieß es am Mittwoch in Regierungskreisen. Konkret sei ein gemeinsames Vorgehen gegen den IS in dessen Hauptstadt Rakka sowie im von den Islamisten beherrschten Ort Al-Bab nordöstlich von Aleppo geplant.