Berlin. Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, über das Referendum zur Flüchtlingspolitik in Ungarn – und auch den Zustand der EU.

Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, ist eher skeptisch, was die Zukunft der europäischen Flüchtlingspolitik und der Gemeinschaft insgesamt angeht. Den Ausgang des Referendums in Ungarn wertet er aber positiv.

Herr Schulz, Ungarns Ministerpräsident Orban wollte die Verteilung von Flüchtlingen in der EU per Referendum torpedieren – und ist damit gescheitert. Ein Zeichen neuer Vernunft, neuer Solidarität in Europa?

Der Versuch, die Flüchtlingspolitik innenpolitisch zu instrumentalisieren, ist gescheitert. Dank des ungarischen Volkes wurde Schaden von Europa abgewendet, den die Regierung bewusst in Kauf genommen hätte. Ungarn sollte nun konstruktiv daran mitarbeiten, dass wir zu vernünftigen und tragfähigen Lösungen für die großen Herausforderungen in Europa kommen. Das Signal dieser Abstimmung lautet: Politik darf keine Scheindebatten führen, sondern muss dabei helfen, die Probleme der Menschen zu lösen.

Jene Ungarn, die an der Volksabstimmung teilnahmen, stimmten einhellig gegen die Flüchtlingspolitik der EU. Welchen Grund haben die Vorbehalte gerade in Mittel- und Osteuropa?

Orban selbst spricht ja ganz offen von einem Kulturkampf und einer kulturellen Revolution. Die Solidarität mit Flüchtlingen wird gleichgesetzt mit einer angeblich ungehinderten und unkontrollierten Einwanderung. So werden gezielt Ängste geschürt. Das ist ein grundsätzlich anderes Konzept als das des solidarischen und offenen Europas.

Wie lange können unsolidarische Mitgliedstaaten auf die finanzielle Solidarität der Gemeinschaft zählen?

Fördermittel, die in Sieben-Jahres-Perioden festgelegt sind, können nicht ohne Weiteres gekürzt werden. Aber es ist ja so, dass die Nettozahler der EU auch die Hauptlast bei der Flüchtlingspolitik tragen. Wenn einige Empfängerländer also meinen, sie hätten einen Anspruch auf Solidarität, sie selbst müssten aber nicht solidarisch sein, wird das bei der Überprüfung der EU-Finanzplanung sicherlich diskutiert werden.

Das klingt eher defensiv.

Was die Finanzen angeht, haben wir juristisch keine Mittel in der Hand. Deswegen muss das politisch angegangen werden. Solange sich die Staats- und Regierungschefs aber nicht offen zu diesem Problem äußern, wird sich nicht viel ändern. Die Regierungen der Länder, die die Hauptlast tragen, müssen ihren Kollegen sagen: So geht es nicht weiter. Solidarität ist keine Einbahnstraße.

Kanzlerin Merkel soll Klartext mit Orban reden?

Die Kanzlerin hat sich schon relativ deutlich geäußert. Aber andere Regierungen müssen klarer Position beziehen.

Was sagt der Flüchtlingsstreit über den Zustand der EU aus?

Dass die EU so stark ist, wie ihre Mitgliedstaaten sie stark sein lassen. Wenn die Staaten nicht kooperieren und ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, kann die EU nicht funktionieren.

Warnungen vor einem Scheitern Europas sind also nicht überzogen?

Man muss sich doch nur anschauen, was gerade in Großbritannien passiert. Da wird ein Volk zum Brexit befragt, und nach der Abstimmung sagt die Regierung, wir haben aber keinen Plan, wie wir die EU verlassen. Die Art und Weise, wie Regierungen der Mitgliedstaaten mit dieser Union umgehen, kennzeichnet den Zustand der EU.

Das Bild, das die EU abgibt, ist ein Konjunkturprogramm für Rechtspopulisten ...

Es ist nicht die EU, die ein schlechtes Bild abgibt, sondern unsolidarische Regierungschefs. Deshalb ist das Erste, was wir tun sollten, nicht mehr von der Union zu sprechen, die angeblich versagt. Es sind die Mitgliedstaaten, die Beschlüsse zur Flüchtlingspolitik nicht umsetzen und dadurch den Rechtspopulisten erst richtig Rückenwind verschaffen. Die pauschale Forderung nach Renationalisierung ist das Rekrutierungsprogramm für die Populisten.

Populistische Argumente spielen auch in der Debatte um die Freihandelsabkommen mit Nordamerika eine Rolle. Was sagen sie den Kritikern?

Das Ceta-Abkommen mit Kanada ist einer der besten Handelsverträge, die wir seit Jahren ausgehandelt haben. Aber die USA lehnen viele der dort vereinbarten Standards ab. Deshalb werden wir beim TTIP-Abkommen noch Zeit bis zu einer Einigung brauchen.

Die SPD dringt auf weitere Änderungen bei Ceta – wie realistisch ist das?

Wir verhandeln sehr konkret über Zusatzerklärungen etwa bei der öffentlichen Auftragsvergabe und der Daseinsvorsorge. Ich bin sehr optimistisch, dass es rechtsverbindliche Erklärungen geben wird.

SPD-Fraktionschef Oppermann verlangt einen völligen Neustart beim Freihandelsabkommen mit Amerika nach den US-Präsidentschaftswahlen. Unterstützen Sie ihn dabei?

Der Vorschlag ist interessant und klug, aber: Die 28 Mitgliedstaaten der EU haben einstimmig ein Verhandlungsmandat definiert, auf dessen Grundlage die Kommission mit den USA redet. Wenn man das ändern will, müssten sich erst die 28 EU-Staaten im Ministerrat einigen – und dann müsste geprüft werden, ob die USA einer Änderung des Mandats zustimmen.

Im Januar läuft Ihre vereinbarte Amtszeit als Parlamentspräsident aus. Wissen Sie schon, was Sie im nächsten Jahr beruflich machen?

Die Situation in Europa fordert meine ganze Aufmerksamkeit. Über meine Zukunft denke ich nicht nach. Aber ich freue mich natürlich, wenn ich lese, dass man mich für einen guten Parlamentspräsidenten hält.