Ankara. Die Türkei sperrt sich gegen die Lockerung seiner drakonischen Gesetze – und das Land bleibt gegenüber der Europäischen Union hart.

Mehmet Naci Bostanci ist ein bedächtiger Mann. Er spricht leise, fast sanft, doch seine Botschaften sind knallhart. „Die gegenwärtige soziale Atmosphäre macht es nicht möglich, das Anti-Terror-Gesetz zu ändern. Wir haben fast jeden Tag einen Anschlag. Wir müssen uns schützen.“ Naci Bostanci ist nicht irgendwer. Er führt die Fraktion der in der Türkei fast allmächtigen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) als Vize. „Wir werden die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um den Terror zu bekämpfen“, sekundiert Parlamentspräsident Ismail Kahraman, protokollarisch der zweite Mann im Staat.

Damit ist klar: Die EU beißt bei ihrer Forderung, das Anti-Terror-Gesetz zu lockern, auf Granit. Brüssel will Ankara diesen Schritt mit einer Aufhebung des Visazwangs versüßen – wie es aussieht, ohne Erfolg. Das Gesetz richtet sich gegen diejenigen, die Terrorakte begehen, planen und „unterstützen“. Es ist ein Gummi-Paragraf. Mit ihm kann die Regierung alle, die anderer Meinung sind, nach Gusto verhaften. So erging es Tausenden Richtern, Staatsanwälten oder Journalisten nach dem gescheiterten Putsch am 15. Juli.

Erklärungsbedarf sehen die Spitzenpolitiker nicht

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Gaziantep.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Gaziantep. © dpa | Sedat Suna

Die Türkei befindet sich im Anti-Terror-Modus. Und irgendwie dreht sich das Land um sich selbst. Einen übergroßen Erklärungsbedarf gegenüber dem Ausland sehen die Spitzenpolitiker nicht. Die Regierung in Ankara hatte für Beginn dieser Woche 17 Journalisten von ausgewählten internationalen Medien eingeladen – darunter die „Washington Post“ aus den USA, der „Independent“ aus Großbritannien“, der „Figaro“ aus Frankreich, „Spiegel“, „FAZ“ und unsere Redaktion aus Deutschland.

Vorgesehen waren Gespräche mit Präsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Binali Yildirim. Die Organisatoren vertrösten die Presseleute immer wieder – bis weit nach Mitternacht. Am Ende heißt es: Fehlanzeige.

Stattdessen gibt es einen Termin beim Presse- und Informationsamt in Ankara. Dort wartet Generaldirektor Mehmet Akarca, ein Mann mit Bürstenhaarschnitt und dunkelblauem Anzug. Er zeigt ein Video von der Putschnacht, das die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu zusammengestellt hat. Man sieht die Panzer der aufständischen Militärs über die Bosporus-Brücke rollen, die heute „Brücke der Märtyrer des 15. Juli“ heißt. F-16-Jets donnern über das Parlament. Dann wird ein Handy-Aufruf von Präsident Erdogan im Sender CNN Türk eingeblendet: „Gehen Sie auf die Straßen und Plätze und bieten Sie den Verrätern die Stirn.“

Am Ende triumphiert die Demokratie

Stunden später sind Hundertausende draußen, schwenken die rote Nationalflagge mit dem Halbmond. Es ist ein einfaches Drehbuch: Am Anfang steht die Gefahr der putschenden Generäle, die die Macht an sich reißen wollen. Dann kommt der rettende Staatschef, der das Volk mobilisiert. Am Ende triumphiert die Demokratie.

Die Feinde der Demokratie und die Drahtzieher des Putsches zeichnet die Regierung in grellen Farben: Es ist die islamische Bewegung des türkischen Predigers Fethullah Gülen, der seit Jahren im US-Bundesstaat Pennsylvania sitzt. Sie betreibt Privatschulen in über 160 Ländern und investiert gleichzeitig in Medienarbeit, Finanzen und Gesundheitshäuser. Doch was als wohltätiges soziales Programm daherkommt, sieht die Regierung nur als Maske. „Die Gülen-Bewegung ist eine terroristische Organisation, die Politik, Militär, Justiz und den Bildungsbereich infiltriert hat“, sagt Parlamentspräsident Kahraman.

Die Regierung folgt ihrer ganz eigenen Logik

Presseamtschef Akarca malt ein noch düstereres Bedrohungs-Szenario: „Gülen ist extrem gefährlich. Die Organisation arbeitet noch mehr im Verborgenen als die Mafia, der Geheimbund der Illuminati und der Freimaurer.“ Er warnt vor einem weltumspannenden Netzwerk, das auch andere Länder an den Rand des Kollapses bringen könnte. Beweise für die Verstrickung der Gülen-Leute in den Putschversuch wurden nicht vorgelegt.

Die Regierung folgt ihrer eigenen Logik: Um die Gefahr eines Umsturzes abzuwenden, müsse das Land „gesäubert“ werden. Mehr als 80.000 Staatsbeamte wurden entlassen, viele davon verhaftet. Auch das unterstreicht, dass Demokratie in der Türkei eine andere Lesart als im Westen Europas hat. Dort bedeutet es: Weg mit den „Staatsfeinden“, in Deutschland oder Frankreich haben dagegen die Prinzipien des Rechtsstaates sowie die freie Meinungsäußerung Vorrang.

Kühles Verhältnis zu den USA, neue Nähe zu Putin

Die seit rund vier Wochen andauernde Entspannungswelle zwischen Brüssel und Ankara ist trügerisch. Seit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Anfang September die Türkei besuchte, hat sich zwar die zuvor heftig aufgeladene Tonlage deutlich entspannt. Doch im Verständnis von den Grundprinzipien des Rechtsstaates klaffen tiefe Lücken.

Auch in den außenpolitischen Allianzen geht der Nato-Partner Türkei neue Wege. Das Verhältnis zu den USA ist eher unterkühlt – auch, weil Washington keine Anstalten macht, Gülen auszuliefern. Bemerkenswert mild wird dafür Kremlchef Wladimir Putin beurteilt, der dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad beim Bombenhagel auf Aleppo freie Hand lässt.

Forderung nach EU-Beitritt der Türkei wird seltener

„Moskau hat den ernsthaften Wunsch zum Frieden“, erklärt Parlamentspräsident Kahraman. „Russland will wie die Türkei die territoriale Integrität Syriens erhalten“, meint AKP-Fraktionsvize Naci Bostanci. Ein Seitenhieb gegen Amerika, das die kurdische Volksmiliz YPG im Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) unterstützt. Die YPG strebt in Nordsyrien zumindest eine weitgehende Autonomie für die Kurden an.

Die Stimmen, die vehement für einen Beitritt in die EU werben, sind in der Türkei selten geworden. Aber es gibt sie. Der Vize-Fraktionschef der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Engin Altay, gehört dazu. Er spricht sich für eine baldige Eröffnung der Beitrittskapitel 23 und 24 aus, bei denen es auch um Justiz, Grundrechte und Freiheit geht. „Das wird dazu beitragen, dass sich das Rechtssystem in der Türkei verbessert“, hofft er.