Paris. An zwei Orten hatten die Attentäter Geiseln genommen. Frankreichs Bürger erlebten einen Albtraum.
Unvorstellbar, furchterregend, den Atem verschlagend: Frankreich blickt nach dem islamistischen Blutbad in der Redaktion des Satireblattes „Charlie Hebdo“ fassungslos auf das, was sich nur 48 Stunden später im Land abspielt. Praktisch gleichzeitig läuft eine doppelte Geiselnahme ab, wobei vieles auf ein Zusammenspiel hindeutet. Erst nach Stunden kann die Polizei mit zeitgleichen Einsätzen beide Geiselnahmen beenden. Drei Täter werden dabei laut übereinstimmenden Berichten getötet. Auch vier Geiseln sterben.
Frankreichs Staatspräsident François Hollande hat nach den Worten von Regierungschef Manuel Valls selbst über den Doppelschlag der Polizei gegen die Terroristen entschieden. Valls erklärte am Freitagabend in Paris, man stehe im Kampf gegen den Terrorismus vor einer beispiellosen Herausforderung. Der Sozialist versprach, die Taten vollständig aufzuklären. Die Opfer und ihre Familien hätten ein Recht auf die Wahrheit. Der konservative Ex-Präsident Nicolas Sarkozy sagte am Abend, Barbaren hätten Frankreich den Krieg erklärt.
In dem Ort Dammartin-en-Goële nordöstlich von Paris verschanzen sich die beiden Brüder
Chérif (32) und Said Kouachi (34) - die mutmaßlichen „Charlie Hebdo“-Attentäter
- nach einer Schießerei mit Elitepolizisten in einer kleinen Druckerei. Sie
halten mindestens eine Geisel in ihrer Gewalt.
Ein paar Stunden später an
einem anderen Ort: erneuter Geiselalarm in der sich überstürzenden Dynamik der
Ereignisse. Ebenfalls bis an die Zähne bewaffnet stürmt ein Mann, der am Vortag
vermutlich eine Polizistin getötet hat, in Paris einen Supermarkt für koschere
Lebensmittel.
Helikopter kreisen seit dem frühen Morgen im Nebel über dem
8000-Seelen-Ort Dammartin-en-Goële. Spezialeinheiten schnüren im weiträumig
abgesperrten Gebiet alles ab, um den meistgesuchten mutmaßlichen Verbrechern des
Landes ein Entkommen unmöglich zu machen. Die Welt will sehen, dass jene, die am
Mittwoch kaltblütig und generalstabsmäßig in der „Charlie Hebdo“-Redaktion zwölf
Menschen erschossen haben, hinter Gitter kommen.
„Praktisch ist es eine
Kriegszone“, erzählen Anwohner den Reportern. In Paris tagt zu der Zeit gerade wieder das
Krisenkabinett von Staatspräsident François Hollande. Die Regierung zeigt sich
entschlossen im Kampf gegen Terror.
Es sollte nicht die letzte Zusammenkunft
der Regierungsriege an diesem Tag der außergewöhnlichen Ereignisse sein. Während
Spezialisten des Innenministeriums versuchen, in Kontakt mit den verschanzten
Brüdern in Dammartin-en-Goële zu kommen, laufen die nächsten Hiobsbotschaften
wegen der zweiten Geiselnahme ein.
An der Porte de Vincennes am östlichen
Stadtrand von Paris stürmt ein
Schwerbewaffneter den Supermarkt. „Ihr wisst, wer ich bin“, so soll er gerufen
haben - es ist offensichtlich der Mann, der am Vortag im Süden der Hauptstadt
eine Polizistin erschossen hatte. Einen Zusammenhang zum Fall „Charlie Hebdo“
gibt es wohl auch - die Täter sollen sich kennen.
Wie französische Medien unter Berufung auf Ermittler am Freitagabend berichteten, unterlief dem Geiselnehmer Amedy Coulibaly das Missgeschick, als er von einem Telefon im Laden einen Bekannten anrief. Dadurch wussten die Beamten genau, was der Attentäter vorhatte. Sie entschlossen sich laut Agentur AFP kurz nach 17.00 Uhr zum Zugriff, als sich der Geiselnehmer etwas entspannte. Der Sender BMFTV berichtete, der Angriff begann, als Coulibaly Gebete sprach. Im Zuge der Schießerei, Geiselnahme und Befreiung starben fünf Menschen - einschließlich des Täters.
Die Gewalttaten türmen
sich, ungläubig verfolgen viele Franzosen den Alptraum, der sich gerade in ihrem
Land entfaltet. Das Klima könnte kaum niederdrückender sein. Dazu passt der
Rückzug des umstrittenen Schriftstellers Michel Houellebecq aus der
Seine-Metropole. Der Anschlag auf „Charlie Hebdo“ passierte am selben Tag, an
dem sein islamkritischer Roman „Soumission“ (Unterwerfung) erschien.
Ausnahmezustand: Schulen evakuiert, Verkehrswege gesperrt, die Medien zu
extremster Zurückhaltung aufgefordert. Bei der Jagd auf die beiden mutmaßlichen
„Charlie Hebdo“-Attentäter war die aufgeschreckte Landbevölkerung aufgefordert,
„sich in den Häusern zu verbarrikadieren, die Fensterläden zu
schließen und dann das Licht auszumachen“. Wer das tat, hörte im Dunkeln die
Helikopter über dem Dach.
Auch die Geiselnahme im Osten von Paris legt weite Teile des sonst belebten
Stadtteils lahm. Schüler müssen in den Gebäuden bleiben. „Die ganze Schule ist
in Panik“, berichtet ein 17 Jahre
alter Schüler der Deutschen Presse-Agentur. Alle stünden unter ziemlichem Druck,
der Alarmplan werde umgesetzt: „Wir müssen alle in unseren Klassen
bleiben.“
Auch in der jüdischen Gemeinde von Paris geht die Angst um. „Dies ist die
schlimmste Zeit, an die ich mich erinnern kann“, sagt ein 54-Jähriger der dpa.
„Es war noch nie so in Frankreich. Wir fühlen uns wie im Krieg, alle haben große
Angst.“ Seine Mutter wohne nur zwei Minuten von dem angegriffenen Geschäft
entfernt. Alle seine Bekannten hätten Angst, auf die Straße zu gehen. „Wir
stellen uns auf eine ganze Serie von Anschlägen ein, auch auf jüdische
Einrichtungen.“
Am späten Nachmittag dann können die Menschen in Frankreich
erst einmal etwas aufatmen: Die Polizei beendet beide Geiselnahmen und tötet die
drei Attentäter. Die Geisel, die die mutmaßlichen Angreifer des Satiremagazins
„Charlie Hebdo“ in Dammartin-en-Goële in ihrem Unterschlupf gefangen hielten,
sei frei und unverletzt, berichtet
die Nachrichtenagentur AFP. Beim Einsatz gegen den Geiselnehmer im Osten von
Paris kommen dagegen mindestens drei
Geiseln ums Leben, vier sollen schwerverletzt sein. dpa