Braunschweig. WDR-Redakteur Döschner reiste zum größten AKW Europas. Im Interview erklärt er, dass die Kriegslinie in der Ukraine bedrohlich nahe liegt.

15 Atomkraftwerke, hochgiftiger Müll: In der Ukraine herrscht nicht nur Krieg, hinzu kommt eine hohe Dichte an Nuklearanlagen – ein bedrohliches Szenario. WDR-Redakteur Jürgen Döschner ist am Donnerstag von einer viertägigen Recherchereise aus der Ukraine zurückgekehrt. Döschner erklärte Andre Dolle, dass er nun nicht gerade beruhigter ist als vor seiner Reise.

Haben Sie vom Krieg, der unweit vom Kernkraftwerk Saporischschja stattfindet, etwas mitbekommen?

„Durch die AKW kann es während des Krieges zu einer dramatischen Katastrophe kommen.“
„Durch die AKW kann es während des Krieges zu einer dramatischen Katastrophe kommen.“ © Jürgen Döschner,WDR-Energieexperte

Nein. Das Atomkraftwerk liegt knappe 200 Kilometer von Donezk, und damit auch vom Kampfgeschehen, entfernt. Die Zufahrtstraße nach Energodar, der nächstgelegenen Stadt, ist durch Militär gesichert. Die Autos, die in das Städtchen fahren, werden kontrolliert. Man hat auch das Kernkraftwerk unter militärische Überwachung gestellt. Ich konnte aus der Entfernung sehen, dass die Sicherungen durch Stacheldraht und Zäune erheblich verstärkt wurden. Auf alten Bildern war dies nicht zu sehen. Es herrscht große Angst, dass prorussische Separatisten auf das Gelände vordringen könnten.

Konnten Sie ungehindert recherchieren?

Es war unterschiedlich. Die Erfahrung am AKW war so, wie ich es erwartet habe: Es herrschte große Vorsicht. Ins AKW hat man mich nicht gelassen. Selbst fotografieren durfte man das AKW nicht. Aber ich habe ein Interview mit dem Sprecher des AKW geführt. In Kiew habe ich mit dem Sicherheitschef des staatlichen Atomkraftwerkbeitreibers Energoatom gesprochen. Ich habe auch mit dem Chef der nationalen Atomaufsichtsbehörde gesprochen. Bis auf den Saporischschja-Sprecher, der sagte, dass selbst Raketen seinem Kraftwerk nichts anhaben könnten, waren alle Gesprächspartner erstaunlich offen, was ihre Sorgen über die Sicherheit der Atomanlagen angeht.

Worin bestehen diese Sorgen?

Der Chef der nationalen Atomaufsicht sagte, dass die ukrainischen Atomkraftwerke gegen moderne Waffen natürlich nicht gesichert sind. Diese Kraftwerke sind auf Friedenszeiten ausgerichtet. Nach seiner Einschätzung gilt das für alle AKW weltweit.

Wie ist denn Saporischschja konkret gesichert?

Saporischschja ist das AKW mit der geringsten Entfernung zum Kampfgeschehen. Es gibt aber auch noch die Atomruine in Tschernobyl, es gibt sensible Nuklear-Standorte mit Altlasten. In Saporischschja gibt es ein Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente. Das sind alles Punkte, von denen große Gefahren ausgehen, wenn es zu militärischen Schlägen kommt. In Saporischschja sieht man keine Flugabwehrstellungen, die Angriffe mit schweren Geschossen abwehren könnten. Zu Sowjetzeiten wurden noch fast alle sensiblen Infrastrukturen gesichert. Alle Kraftwerke sind nun in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden. Der Sicherheitschef von Energoatom sagte mir, dass es weitere Vorkehrungen gibt, die aber nicht publik werden dürfen. Es gibt auch einen geheimen Nato-Katalog mit Empfehlungen.

Unser Leser Hicham Hydro fragt: Wer würde denn schon absichtlich ein AKW angreifen?

Ein Waffenexperte sagte, dass ein unter Beschuss geratenes ukrainisches Kampfflugzeug alle Zusatztanks und Raketen abwerfen könnte, um sicher zu landen. Bei solch einem Abwurf könnte ein Kraftwerk getroffen werden. Denkbar sind Fehlschüsse mit weitreichenden Raketen. Man weiß nicht, was Separatisten noch alles in Stellung gebracht haben. Die Totschka ist eine im Tschetschenien-Krieg eingesetzte Boden-Boden-Rakete, die bis zu 200 Kilometer reicht. Da kann es immer zu unglücklichen Zufällen kommen. Wir haben beim Abschuss des Flugzeugs MH 17 gesehen, was alles möglich ist. Auch das hat wohl niemand gewollt. Es reicht manchmal schon, wenn die Stromversorgung oder die AKW-Kühlung ausfallen.

Kann die Ukraine auf Atomkraft verzichten?

Theoretisch kann die Ukraine das, praktisch nicht. Die Ukraine bezieht 50 Prozent ihrer Stromversorgung aus der Kernenergie. Das ist ein großer Brocken. Russland liefert kein Gas mehr, die Kohlelieferungen aus den Kriegsgebieten stocken. Im Winter wird es zu erheblichen Problemen beim Heizen kommen. Viele Menschen werden auf Stromheizungen umsteigen. Wenn dann Kraftwerke ausfallen, wird es katastrophal. Nachdem das Mikro abgestellt war, sagte mir der Chef der Atomaufsichtsbehörde, dass die Stromversorgung Vorrang habe. Außerdem birgt auch ein heruntergefahrenes AKW Risiken.

Wie ließe sich denn mehr Sicherheit bei den AKW schaffen?

Das geht nur, indem der Krieg beendet wird. Es hat bisher 2000 Kriegsopfer gegeben, 300 Opfer der MH 17. Die Verantwortlichen müssen sich bewusst sein, dass es durch die Kernkraftwerke zu einer wesentlich dramatischeren Katastrophe kommen kann. Das muss auch in Europa diskutiert werden. Wir wären alle davon betroffen. Das muss ein ganz wichtiger Ansporn sein, die Friedensbemühungen zu verstärken. Leider wird das viel zu wenig berücksichtigt.

Mit welchem Gefühl haben Sie die Ukraine wieder verlassen?

Ich hatte gehofft, dass meine Befürchtungen durch Infos vor Ort abgemildert werden. Nach diesen Tagen ist das Gegenteil passiert. Die Ukrainer können die Bedrohung einer Atomkatastrophe mit ihren Mitteln während des Krieges nicht in den Griff bekommen. Das ist ein Spiel mit dem Feuer.