New York City. Nach dem Hurrikan „Sandy“ - Ein Ex-Braunschweiger und ein Wolfenbütteler erklären, wie die Menschen an der US-Ostküste die Katastrophe meistern.

Auf dem Times Square, dem berühmten Platz mit den gigantischen Leuchtreklamen mitten im Theaterviertel Manhattans, drängen sich die Touristen. Wie immer. Auch auf der 5th. Avenue mit den feinen - und teuren - Geschäften herrscht das übliche Menschen-Gewusel. Und die Apple-Filiale gegenüber dem Plaza-Hotel am Central-Park ist mal wieder völlig überlaufen - gut eine Stunde stehen die Leute geduldig Schlange, bis sie schubweise eingelassen werden. Alltag in New York City.

Doch nur Häuserblocks davon entfernt und in benachbarten Stadtbezirken spielen sich ganz andere Szenen ab. In Notunterkünften werden Lebensmittel ausgegeben, überflutete U-Bahn-Schächte werden abgepumpt, die Polizei sperrt wegen anhaltender Stromausfälle ganze Viertel ab, auch um die Häuser vor Plünderern zu schützen, Soldaten sind zur Unterstützung angerückt, ebenso die Nationalgarde.

Leander Schmidt-Glintzer aus Wolfenbüttel
Leander Schmidt-Glintzer aus Wolfenbüttel

Lange Schlangen vor Tankstellen, weil die Menschen Treibstoff für ihre Fahrzeuge und Notstromaggregate benötigen; lange Schlangen an den Not-Bushaltestellen, weil noch längst nicht alle U-Bahnen fahren.

Bis tatsächlich wieder normaler Alltag herrscht, wird es noch lange dauern. Der Supersturm „Sandy“ hat der Millionenstadt New York City und vor allem dem Nachbarbundesstaat New Jersey vielfachen Tod und schwere Zerstörungen gebracht. Auf seinem Weg von der Karibik über die US-Ostküste bis nach Kanada hat der Hurrikan mehr als 100 Todesopfer gefordert.

Thilo Agthe (50), ist trotz aller Probleme zuversichtlich, absolut optimistisch: „Die New Yorker haben schon einige Katastrophen erlebt - und sie lassen sich nicht unterkriegen.“ Der Ex-Braunschweiger und überzeugter Eintracht-Braunschweig-Fan lebt seit rund 30 Jahren in den USA, ist inzwischen US-Staatsbürger und arbeitet als Rechtsanwalt in einer Kanzlei an der Wallstreet in Manhattan. „Wir sind Amerikaner - wir stehen immer wieder auf, packen an, räumen auf und helfen uns gegenseitig.“

Resignation sei selten anzutreffen, ganz im Gegenteil: „In einer solch schweren Lage hilft den Amerikanern ihr Stolz auf ihre eigene Stadt, auf ihr Land, und sie glauben daran, dass Gott denen hilft, die sich selbst helfen“, sagt Agthe. „Die Menschen halten in der Not zusammen, und es wird dort geholfen, wo geholfen werden kann.“

Agthe ist in New Jersey zu Hause. Er und seine Familie haben den Sturm unbeschadet überstanden. In seiner weiteren Nachbarschaft aber haben Tausende von Menschen alles durch Sturm und Flut verloren. „Und dann kommt bei den Menschen zum Vorschein, was ich an den Amerikanern immer wieder so schätze: Wenn es darum geht, anderen zu helfen, sind sie Weltmeister. Man will einfach helfen, man wartet nicht darauf, bis die Regierung oder Behörden etwas tun. Eigeninitiative ist gefragt und eigentlich selbstverständlich. - Das macht mich Stolz, Amerikaner zu sein.“

Seine Kanzlei in dem Büro-Wolkenkratzer in Manhattan allerdings wird Agthe nach einer Woche auch an diesem Montag noch nicht wiedersehen. „In den unterirdischen Geschossen stand das Wasser etwa sechs Meter hoch. Dort waren die ganzen elektrischen Anlagen untergebracht - alles muss nun erneuert oder repariert werden. Auch die Aufzugsschächte waren vollgelaufen.“ Vorerst wird Agthe ebenso wie seine Kanzleikollegen und Tausende anderer Büroangestellter der Südspitze Manhattans wenn überhaupt nur von zu Hause aus per Computer arbeiten können.

Der 24-jährige Leander Schmidt-Glintzer aus Wolfenbüttel lebt gerade erst seit einigen Wochen direkt in Manhattan. Er arbeitet als Koch in einem Edel-Restaurant an der 65. Straße. Wenn er an die gewaltige Wucht des Hurrikans denkt, fallen ihm drei Begriffe ein: Zerstörung, Chaos, Hilflosigkeit. Aber er hat auch diese Erfahrung gemacht: „Niemand ist hier vor Ehrfurcht erstarrt. Die Menschen scheinen sich der Macht der Natur sehr bewusst zu sein; niemand erliegt der völligen Verzweiflung, so folgenreich der Sturm auch gewütet hat.“

Der junge Neu-New-Yorker hat die Sturmnacht ebenfalls unbeschadet überständen. Arbeitskollegen von ihm aber sind nicht so glimpflich davongekommen - eine Familie lebt in einem der überfluteten Wohngebiete. eine andere in einer der Gegenden, in denen es seit einer Woche immer noch keinen Strom gibt.

Schon am Dienstag ging für Schmidt-Glintzer die Arbeit weiter, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Die Mitarbeiter mussten teils stundenlange Fußmärsche zur Arbeit (und zurück) zurücklegen, weil die U-Bahnen immer noch nicht komplett wieder fahren; außerdem fielen Lieferanten aus. Aber auch, wenn der Alltag für die Menschen an der Ostküste von Tag zu Tag Stück für Stück wieder normaler wird, ist der Wolfenbütteler überzeugt: „Die Wunden werden lange Zeit brauchen um zu verheilen. Und die Narben werden uns noch lange erinnern lassen.“