Berlin. Benjamin Steinitz dokumentiert antisemitische Vorfälle. Er befürchtet eine Normalisierung der Terror-Verherrlichung durch den Krieg.

Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) dokumentiert antisemitische Vorfälle in Deutschland. Geschäftsführer Benjamin Steinitz erklärt im Interview, wie die Angriffe am 7. Oktober das Lebensgefühl von Jüdinnen und Juden in Deutschland verändert haben, welche Entwicklung er befürchtet und was nicht-jüdische Menschen tun können, um zu unterstützen.

Herr Steinitz, Sie und Ihre Kollegen dokumentieren antisemitische Vorfälle. Wie haben sich die Zahlen seit dem 7. Oktober entwickelt?

Wir haben allein in der ersten Woche seit dem Angriff der Hamas auf Israel bundesweit 202 neue verifizierte antisemitische Vorfälle registriert. Das entspricht einem Zuwachs von 240 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, und im Schnitt 22 Vorfällen pro Tag. Und das war nur die Auswertung der ersten Woche, seitdem sind schon wieder viele Fälle dazugekommen. Der 7. Oktober wird in die Geschichte eingehen als der Tag mit den meisten jüdischen Todesopfern seit der Schoah. Viele Jüdinnen und Juden in Deutschland trauern und sind in Sorge um Angehörige in Israel. Zu diesem Trauma kommen jetzt noch antisemitische Vorfälle. Das ist eine doppelte Belastung.

Wie verifizieren Sie Meldungen?

Wir nehmen Meldungen online über report-antisemitism.de entgegen. In elf Bundesländern gibt es eigene Meldestellen, die Meldungen aus diesen Ländern bearbeiten, für die übrigen ist der Bundesverband zuständig. Nach jeder Meldung treten die Kollegen mit der meldenden Person in Kontakt, stellen eine Reihe von Fragen und nehmen Details auf. Diese Informationen werden dann anonymisiert in eine Datenbank eingetragen.

Wie sehen die Vorfälle aus, die Ihnen gemeldet werden?

Jüdinnen und Juden werden verantwortlich gemacht für das, was in Israel passiert. In Berlin gab es einen Fall, wo ein Jude an einer Bushaltestelle gewartet hat, und dann kam jemand und schrie ihn 20 Sekunden lang mit „Free Palestine“ an. In Neukölln saß ein Paar vor einer Kneipe und unterhielt sich auf Hebräisch, und eine unbekannte Person warf einen Böller auf sie. Schmierereien auf Schulgrundstücken, Parolen an Wänden, antisemitische Propaganda… Vieles findet auch online statt.

Jüdische Einrichtungen und Menschen – hier Studierende des Studiengangs für Jüdische Theologie in Potsdam – wurden in den vergangenen Wochen vermehrt Ziel von antisemitischen Vorfällen.
Jüdische Einrichtungen und Menschen – hier Studierende des Studiengangs für Jüdische Theologie in Potsdam – wurden in den vergangenen Wochen vermehrt Ziel von antisemitischen Vorfällen. © picture alliance / dpa | Ralf Hirschberger

Was weiß man über die Täter?

Wir gruppieren die Vorfälle nach ihren politisch-weltanschaulichen Hintergründen. Die größte zuordenbare Gruppe seit dem 7. Oktober war der anti-israelische Antisemitismus, gefolgt von islamisch-islamistischem Antisemitismus. Aber 64 Prozent der Fälle können wir keinem expliziten Milieu zuordnen. Das ist auch ein Problem für Jüdinnen und Juden, weil man nicht weiß, aus welcher Richtung die Angriffe kommen.

Was bedeutet das für Jüdinnen und Juden in Deutschland?

Die Hamas verbreitet ihre Taten ganz gezielt über Social Media und ruft nach wie vor gezielt zu Angriffen gegen die israelische Zivilbevölkerung und zu globaler Solidarität mit ihren Taten auf. Und vor diesem Hintergrund haben wir gesehen, wie in den vergangenen Tagen an Wohnhäusern von Jüdinnen und Juden Davidsterne auftauchten. Es handelt sich um öffentliche Markierungen potenzieller Angriffsziele. Das ist eine neue Qualität, und es verunsichert die Leute sehr. Mit der Stimmung auf den Straßen wächst die Gefahr von Angriffen.

Von unseren Reportern in Israel

Sie meinen die pro-palästinensischen Demonstrationen?

Ja. In Berlin, in Nordrhein-Westfalen, aber auch in anderen Teilen Deutschlands wurde in den vergangenen Tagen ganz offen bei Demonstrationen der Terror der Hamas als legitimer Widerstand verherrlicht. Meine große Sorge ist, dass diese Versammlungen anwachsen werden, je länger der Krieg dauert. Und je größer sie werden, umso mehr werden diese Positionen normalisiert – und die Teilnehmer können sich radikalisieren.

Wie kann das verhindert werden?

Politik, Zivilgesellschaft und Strafverfolgungsbehörden müssen jeder Form von Terrorverharmlosung und -legitimierung entschieden entgegentreten. Mir fehlt ehrlich gesagt ein breiter zivilgesellschaftlicher Aufschrei. Die Politik hat sich klar positioniert, aber andere einflussreiche Akteure sind zu leise. Ich denke da zum Beispiel an die Gewerkschaften, aber auch an religiöse Verbände. Gerade muslimische Verbände müssen diesen Terror jetzt eindeutig verurteilen, denn es geht hier um islamistischen Terror. Die Türkische Gemeinde Deutschland hat das deutlich getan, andere waren nicht so klar.

Vermisst den breiten Aufschrei der Gesellschaft: Benjamin Steinitz, Geschäftsführer des Bundesverbands der  Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS).
Vermisst den breiten Aufschrei der Gesellschaft: Benjamin Steinitz, Geschäftsführer des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS). © imago/IPON | IMAGO/IPON

Wie versuchen Juden sich zu schützen?

Der Alltag hat sich stark verändert. Eltern haben zum Teil ihre Kinder nicht in die Schule oder Kita geschickt, manche jüdischen Familien nehmen die Mesusa als Symbol an der Wohnungstür ab, damit sie nicht erkennbar sind. Es ist eine ständige Abwägung zwischen Sichtbarkeit und Sicherheit – und da überwiegt gerade Sicherheit. Jede Schutzmaßnahme, die etwa bei Einrichtungen notwendigerweise ergriffen wird, erinnert auch an die Bedrohung. Aber ich sehe auch viel Resilienz: Nach dem Brandanschlag auf die Berliner Synagoge von Kahal Adass Jisroel haben die Vertreter der Gemeinde gesagt, wir lassen uns hier nicht vertreiben. Wir werden hier nicht weggehen. Das finde ich sehr beachtlich.

Hat die aktuelle Stimmung einen Einfluss darauf, ob Juden eine Zukunft in diesem Land sehen?

Es gibt immer wieder gesellschaftliche Ereignisse, an denen Juden und Jüdinnen merken, dass sie eine permanente Projektionsfläche für Antisemitismus sind. Die antisemitischen Erzählungen im Zusammenhang mit Corona etwa, die Aiwanger-Debatte oder die Documenta letztes Jahr. Aber bisher haben viele gedacht, im Notfall verlassen sie Deutschland und gehen nach Israel. Israel ist ein Schutzraum für Jüdinnen und Juden weltweit. Aber diese Schutzfunktion ist an diesem Tag durch die Terroristen beschädigt worden.

Was können nicht-jüdische Menschen tun, wenn sie antisemitische Übergriffe beobachten?

Genau hinhören, den Fall dokumentieren. Wenn es geht, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen, Kontakt aufnehmen zu der adressierten Person und fragen, ob man die Polizei rufen soll. Deutlich machen, dass diese Person nicht allein ist. In öffentlichen Verkehrsmitteln ist es hilfreich, laut darüber zu sprechen, was passiert – und andere Leute direkt anzusprechen und um Unterstützung zu bitten. Auch im privaten Umfeld sollte man deutlich widersprechen, wenn Gewalt und Terror gegen Zivilisten verherrlicht werden. Es ist wichtig, jetzt Farbe zu bekennen.