Berlin . Behörden fürchten, dass 300 Kämpfer wieder zurück sind und Anschläge verüben könnten. Doch über viele gibt es keine Informationen.

Es gibt ein Bild aus Murats erstem Leben. Er ist noch ein Teenager, spielt Fußball in der B-Jugend, in einem jüdischen Verein in einer deutschen Großstadt. Auf dem Mannschaftsfoto trägt Murat ein blaues Trikot, auf seiner Brust den Davidstern.

Es gibt ein zweites Bild aus Murats Leben. Er trägt kurzes Haar und Kapuzenpullover. Murat ist angeklagt, sitzt im Gerichtssaal, vor ihm Dutzende Kameras der Journalisten. Es ist Herbst 2014, der erste Prozess gegen einen Syrien-Rückkehrer beginnt. Murat hatte sich im Mai 2013 der Terrormiliz „Islamischer Staat“ angeschlossen, wurde in dessen Trainingslagern ausgebildet. Liegestütze, laufen, schießen mit Sturmgewehren. Seiner Schwester in Deutschland schwärmt er vor: „Ich chille, gehe kämpfen und mache meinen Job für Allah. Ich nehme meine Kalaschnikow und bismillah.“ In Gottes Namen.

950 deutsche Islamisten sind in den Dschihad gereist

Schon damals ist klar: Murat B. wird kein Einzelfall bleiben. Heute sollen laut Bundeskriminalamt (BKA) rund 300 IS-Reisende wieder in Deutschland sein. Viele junge Männer haben dort gekämpft und getötet, andere hockten nur in Lagern oder Häusern im IS-Gebiet, wieder andere haben für die Propagandaabteilung des IS gearbeitet oder zogen als Frauen die Kinder der Dschihadisten groß. Jetzt fragt sich der deutsche Staat: Wie gefährlich sind die IS-Rückkehrer? Und wie gehen wir mit diesen Menschen um, die in vielen Fällen Mord und Folter gesehen haben? Oder sogar mitgemacht haben.

BKA-Präsident Holger Münch warnte schon zu Beginn des Jahres, dass die Niederlage des IS dazu führe, dass mehr Dschihadisten zurück nach Deutschland reisen würden. „Sie alle, was immer die Gründe für die Heimreise sind, stellen ein gewisses Risiko dar”, schreiben Sicherheitsberater des amerikanischen Soufan Center. Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen warnt sogar vor einer „neuen Dschihadisten-Generation“. Der Geheimdienst sehe die Gefahr, dass Kinder „islamistisch sozialisiert und entsprechend indoktriniert“ aus den Kampfgebieten nach Deutschland zurückkehren. Die Anschläge in Frankreich etwa haben gezeigt, dass der IS gezielt Attentäter nach Europa entsendet.

Bis heute sind laut Sicherheitsbehörden 950 deutsche Islamisten in den Dschihad ausgereist, laut einer EU-Studie zogen weltweit 42.000 Menschen aus 120 Ländern zum IS, vor allem aus Russland, Saudi-Arabien, Jordanien, Tunesien und Frankreich. 150 Deutsche sind tot. Mehrere Hundert Islamisten leben noch – und sind nicht in Deutschland.

Über viele Rückkehrer gibt es keine belastbaren Informationen

Doch wer mit Polizisten, Geheimdienstlern, Politikern und Pädagogen spricht, der hört wenig Gewissheit. Sondern viele Fragezeichen. Die Zahlen zu den deutschen Islamisten in Syrien und Irak sind Schätzungen, oftmals enden Erkenntnisse der Behörden über Ausreisende schon in der Türkei. Das Bundesinnenministerium spricht auf Nachfrage von „Unwägbarkeiten“ und „Ungenauigkeiten“.

Auch zu den Heimkehrern beim BKA heißt es auf Nachfrage dieser Redaktion: Im Zuge der Gebietsverluste des IS seien „pressewirksame“ Einzelfälle von festgenommenen Personen aus Deutschland bekannt geworden. „Eine verstärkte Rückreisetendenz zeichnet sich bislang jedoch nicht ab.“ Und: „Zu der Mehrzahl dieser Rückkehrer liegen keine belastbaren Informationen vor, dass sie sich aktiv an Kampfhandlungen in Syrien und Irak beteiligt haben.“ Nicht in allen Fällen leitet die Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein, weil Beweise für Straftaten fehlen. „Es ist davon auszugehen, dass etliche der Rückkehrer ein Leben in Freiheit verbringen“, heißt es in einem Strategiepapier des Bremer Verfassungsschutzes. Vor allem Frauen und Kinder.

Wer jetzt erst zurückkehrt, war oft jahrelang im Krieg

Klar ist derzeit nur: Die Sorge vor IS-Rückkehrern ist da. Doch wer kommt und was diese Menschen erlitten oder verbrochen haben, ist dem deutschen Staat meist völlig unbekannt. Das erschwert eine kluge Strategie.

Thomas Mücke ist Geschäftsführer beim Violence Prevention Network, einem Verein, der viele Menschen betreut, die sich radikalisiert haben. Mücke sagt: „Die jungen Männer und Frauen können mit ganz unterschiedlichen Gefühlen nach Deutschland zurückkehren: Manche sind desillusioniert, geschockt oder frustriert. Andere sind abgestumpft oder fanatisiert. In Einzelfällen werden IS-Anhänger auch nach Europa geschickt, um Anschläge zu verüben.“

Lebenslagen und Vergangenheit in Syrien oder Irak sind bei den Rückkehrern stark unterschiedlich – von Fall zu Fall. Oftmals reden die jungen Männer und Frauen erstmal weder mit Polizisten noch mit Betreuern. All das erschwert den Zugang zu diesen Menschen.

Bei Fällen wie Murat, die nach nur kurzer Zeit im Dschihad-Gebiet nach Deutschland zurückkehrten, wussten die Betreuer in den Deradikalisierungsprojekten noch klarer, was zu tun war. Die jungen Menschen kamen oft aus eigenem Antrieb zurück, hatten Zweifel an der Ideologie des IS. Wer jetzt erst zurückkehrt, war oft jahrelang im Krieg – und indoktriniert vom IS. „Konflikte wie in Syrien zeichnen sich durch eine Brutalisierung des Alltagslebens aus“, sagt Kerstin Sischka vom Diagnostisch-Therapeutischen Netzwerk Extremismus in Berlin. „Frauen werden gefangen gehalten oder vergewaltigt. Männer foltern und morden. Oder werden ermordet.“ Wer aus Syrien zurückkehre, könne Straftäter sein. „Aber wir müssen auch sehen, dass diese Menschen durch die erlebte Gewalt das Vertrauen in sich selbst und andere völlig verloren haben“, sagt Sischka. Vertrauensaufbau sei auch Schutz vor Radikalisierung.

Projekte gegen die Radikalisierung Jugendlicher

Ein wichtiger Zugang sind die Familien der IS-Anhänger. Eltern und Geschwister sind häufig selbst unter Schock, wenn ihr Kind, der Bruder oder die Schwester in den Dschihad gezogen ist. Die Familie, beschreiben Experten, ist oft aber auch der letzte wirksame Anker nach Deutschland. So war es auch bei Murat. Immer wieder telefoniert oder chattet er mit seiner Schwester. Mal bittet sie ihn: „Komm nach Hause. Deine Brüder werden dich nie so sehr lieben, wie wir dich lieben“. Ein anderes Mal schreibt sie wütend: „Ihr seid keine Krieger, ihr seid Pimpfe.“ Dumm und naiv. Es vergehen Monate der Gespräche. Dann sagt Murat seiner Schwester: „Ich will nach Hause.“

Quer durch Deutschland sind mittlerweile Projekte entstanden, die mit radikalisierten Jugendlichen, ihren Familien und den IS-Rückkehrern arbeiten. Islamwissenschaftler, Pädagogen, Therapeuten sind dort angestellt. Zuletzt hat die Bundesregierung noch einmal 100 Millionen Euro bereitgestellt. Strategien im Umgang mit Jugendlichen werden getestet. Doch vieles kommt sehr spät. „Wir haben viel verpasst, um Erfahrungen und Erfolge zu sammeln. Und noch immer sind die Personaldecken dünn besetzt“, sagt Psychologin Sischka. Zudem müssten „Deradikalisierer“ zu häufig Alleskönner sein: Islamexperten, Therapeuten, Bewährungshelfer. „Das kann aber schiefgehen“, warnt Sischka, „gerade wenn junge Menschen sehr individuell betreut werden müssen“.

Blick auf die Familie

Vor allem im Umgang mit Kindern und Frauen, die nun aus dem IS-Gebiet fliehen, fehlt Behörden und Präventionsvereinen Erfahrung. Nach Information dieser Redaktion haben fast alle weiblichen IS-Anhänger, die nun noch in Syrien und Irak sind, dort ein Kind mit einem Kämpfer bekommen. Was passiert mit diesen Kindern, den Opfern dieses Krieges? Sind sie ein Fall für das Jugendamt? Sowohl Mücke als auch Sischka fordern einen besonderen Blick auf diese Gruppe.

Der Bremer Verfassungsschutz mahnt zum Blick auf das Umfeld der Rückkehrer. „Kaum eine Schule wird freiwillig ‚Kinder von Terroristen‘ unterrichten wollen“, heißt es in dem Strategiepapier. Auch seien Rückkehrer mit Vorurteilen bei Nachbarn, Eltern oder Mitschülern konfrontiert. Diese Ausgrenzung verringere jedoch die Chancen einer Reintegration.

„Das war Gehirnwäsche“

Bei Mücke und dem VPN werden Radikalisierte wie Murat nach eigenen Angaben mit einem Team von Pädagogen betreut. Auch Islamwissenschaftler seien pädagogisch qualifiziert. Häufig waren IS-Rückkehrer zwar eine lange Zeit bei Dschihadisten, wissen aber wenig über ihre Religion. Murats Betreuer brachten ihm Bücher über den Islam ins Gefängnis mit, hörten zu, diskutierten. Muslime deradikalisieren Muslime.

Es gehe in einem ersten Schritt darum, den Jugendlichen mit seinen feststehenden Ansichten zu verunsichern – und zu signalisieren, dass die Propaganda des IS nicht die einzige Wahrheit sei, sagt Mücke. „Gleichzeitig muss es immer auch darum gehen, den Menschen in Deutschland eine Perspektive abseits des Extremismus zu geben.“ Murat hat im Gefängnis eine Lehre zum Maler und Lackierer begonnen. Andere holen im Knast das Abitur nach.

Kurz nach Murats Inhaftierung begannen Mücke und sein Team mit der Betreuung. Mal zu zweit, mal sogar zu dritt. Bis heute besuchen die Mitarbeiter des Vereins den jungen Mann. Er ist mittlerweile aus der Haft entlassen. Deradikalierung kann Jahre dauern. Mücke sagt, dass Murat auf einem guten Weg sei. Und Murat selbst habe jetzt über den IS gesagt: „Das war eine echte Gehirnwäsche, die die mit mir gemacht haben.“