Brüssel/Berlin. Laut einer aktuellen Studie ist in Europa das Armutsrisiko gesunken. Das Nord-Süd-Gefälle ist bleibt weiterhin deutlich zu spüren.

Weniger Arbeitslose, ein sinkendes Armutsrisiko, bessere Bildung: In der Europäischen Union geht es parallel zum europaweiten Wirtschaftsboom auch mit der sozialen Gerechtigkeit aufwärts. Das ist das zentrale Ergebnis einer Studie der Bertelsmann Stiftung, die pünktlich zum EU-Sozialgipfel der Staats- und Regierungschefs an diesem Freitag veröffentlicht wurde. „Nach zehn Jahren Krise zeichnet sich eine Trendwende ab“, heißt es in der Studie.

Allerdings ist das Nord-Süd-Gefälle in Europa weiter enorm – Spitzenreiter bei sozialer Gerechtigkeit sind Dänemark, Schweden und Finnland, Schlusslicht sind Griechenland und Rumänien. In Griechenland ist die Arbeitslosenquote mit 23,7 Prozent fast dreimal so hoch wie im Durchschnitt der EU, mehr als jeder dritte Grieche ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.

Auch in Italien und Spanien bleibt die Lage angespannt. Der Anteil armer Kinder ist in Südeuropa weiter ungewöhnlich hoch. Das schlägt auf den EU-Durchschnitt durch, europaweit ist mehr als jedes vierte Kind unter 18 Jahren betroffen.

Migranten haben deutlich schlechtere Jobchancen

Selbst in Deutschland, das im „Gerechtigkeitsindex“ auf Platz sieben mit 6,7 von zehn möglichen Punkten landet, liegt noch einiges im Argen: Trotz eines starken Arbeitsmarkts mit der EU-weit geringsten Jugendarbeitslosigkeit hätten sich die Teilhabechancen kaum verbessert, moniert die Studie. Es gelinge nicht, den Sockel der Langzeitarbeitslosen zu verringern, Migranten hätten deutlich schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Auch wenn in Deutschland Fortschritte bei der Chancengerechtigkeit im Bildungsbereich zu verzeichnen seien, gebe es hier im EU-Vergleich relativ starke Probleme. „Obwohl Deutschlands Wirtschaft brummt und die Arbeitslosigkeit auf einem historischen Tiefststand ist, scheinen die Wohlstandsgewinne nicht bei allen Menschen anzukommen“, erklären die Autoren. Ihr Fazit: „EU-weit ist nun politische Führung gefragt. Sie muss einen verlässlichen Rahmen schaffen, so dass alle vom Aufwärtstrend profitieren können. Vor allem die Jugendlichen dürfen nicht alleine gelassen werden.“

EU bekennt sich zu sozialen Rechten der Europäer

Eine bessere Einstimmung hätten sich die Staats- und Regierungschefs der EU, die am Freitag in Göteborg zum Sozialgipfel zusammenkommen, kaum vorstellen können. Zusammen mit den Spitzen von EU-Kommission und EU-Parlament wollen sie eine neue „soziale Säule“ der EU aus der Taufe heben. Ziel ist es, mittelfristig soziale Mindeststandards in Europa etwa für faire Jobs oder eine gute Ausbildung zu sichern. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird allerdings beim Gipfel fehlen – wegen der Koalitionsvorbereitungen, wie es heißt.

Inhaltliche Bedenken gebe es nicht, die Regierung hatte im Rat der Erklärung bereits zugestimmt. In dem Dokument, das in Göteborg feierlich unterzeichnet werden soll, bekennt sich die EU in drei Kapiteln und 20 Punkten zu sozialen Rechten der Europäer, darunter Bildung, Gleichberechtigung, Chancengleichheit, Unterstützung bei der Arbeitssuche, faire Löhne und Sozialleistungen.

Kampf gegen EU-Skepsis und Rechtspopulismus

Sozialpolitik ist demnach auch ein Teil der Bemühungen, die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu stärken, neue Investitionen anzulocken und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu verbessern. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will mit der Proklamation ein Versprechen einlösen, der EU auch stärker ein soziales Profil zu geben.

Er versteht den Vorstoß auch als Beitrag zum Kampf gegen EU-Skepsis und Rechtspopulismus. „Europa hat die größte soziale Krise seit Generationen noch nicht überwunden“, sagte Juncker am Donnerstag. „Wir stehen vor der Herausforderung der Jugendarbeitslosigkeit, der Ungleichheit und einer sich wandelnden Arbeitswelt“.

Ausbildung in einem anderen Land

Die EU müsse gemeinsam nach Lösungen suchen, die Ausrufung der „sozialen Säule“ sei ein „Meilenstein“ - und der erste Schritt von vielen, meinte der Kommissionspräsident. Sozialpolitik ist in Europa allerdings überwiegend Sache der Mitgliedstaaten, deshalb geht es jetzt nicht um einklagbare Rechte oder verbindliche Vorschriften, sondern nur um Zielsetzungen und Anreize zur Angleichung der Sozialstandards; zu den wenigen konkreten Initiativen der EU zählt die Verbesserung der Bedingungen für berufstätige Eltern.

Im Blick bei der Verbesserung ihrer Sozialstandards stehen zunächst die Mitgliedstaaten der Eurozone, doch sollen sich alle EU-Länder um das Anliegen kümmern. Beim Treffen der Staats- und Regierungschefs am Freitag sollen ergänzend zum Thema neue, ehrgeizige Ziele für Bildung und Erziehung besprochen werden: Die EU will junge Leute ermutigen, einen Teil ihrer Ausbildung in einem anderen Land zu absolvieren.

Wirtschaft wirft EU „Anmaßung von Kompetenzen“ vor

So soll das Erasmus-Programm zum Studium in anderen EU-Ländern ausgebaut, die Teilnehmerzahl bis 2025 verdoppelt werden. Die EU will die Anerkennung von Bildungsabschlüssen erleichtern und darauf hinarbeiten, dass jeder Schulabgänger zwei Fremdsprachen gut sprechen kann.

Allerdings: Auch in der Bildungspolitik ist die EU für die Gesetzgebung gar nicht zuständig, die Mitgliedstaaten sind die zentralen Akteure. So wie in der Sozialpolitik. Die neue „soziale Säule“ der EU ist auch deshalb in Deutschland umstritten: Der Wirtschaft passt der ganze Ansatz nicht. Der Arbeitgeberverband BDA hat der EU-Kommission schon eine „Anmaßung von Kompetenzen“ vorgeworfen: Europäische Versprechungen, die allenfalls auf nationaler Ebene realisiert werden könnten, „zerstören das Vertrauen in die EU“. Die Sozialcharta könne daher allenfalls eine Art Kompass sein.