Moskau/Berlin. Einst wurde der „Sturm auf das Winterpalais“ als Beginn einer neuen Zeit heroisiert. 100 Jahre danach gibt sich Russland reservierter.

Die revolutionären Kronstädter Matrosen kamen durch die Hintertür, Parterre, vom Newa-Ufer her. „Energisches Klopfen, ein grau livrierter Diener öffnet verängstigt. ‚Wo kommen wir hier zur Provisorischen Regierung?‘“, beschreibt der Historiker Witali Starzew 1988 die Szene aus der Nacht vom 7. auf den 8. November 1917 (nach zaristisch-julianischem Kalender am 25./26. Oktober).

Er veröffentlichte schon damals Details, die dem Sowjetmythos vom „Sturm“ auf das Winterpalais im damaligen Petrograd, das heute wieder St. Petersburg heißt und jahrzehntelang den Namen Leningrad trug, widersprachen. Der Diener habe vage gewinkt, die Revolutionäre hätten sich in den knapp 1100 Räumen des Palastes verlaufen.

Der Legende nach in Frauenkleidern geflohen

In der ersten Etage des Gebäudes warteten die Minister der bürgerlichen Regierung ratlos auf ihre Absetzung und Festnahme. Ihr Chef, Alexander Kerenski, hatte sich angesichts der aussichtslosen Lage bereits einen Tag vorher in einem Auto der amerikanischen Botschaft – und nach kommunistischer Legende in Frauenkleidern – abgesetzt. Verteidigt wurden sie von einer Schwadron Donkosaken, einer weiblichen Freiwilligen-Kompanie und von 2000 Junker genannten Offiziersschülern. Es folgten einige Schießereien. Im Ergebnis zogen die Amazonen ab, die Kosaken und einige Hundertschaften Junker auch.

Gegen ein Uhr nachts meldete ein Beobachter: „Eine Delegation von 300 bis 400 Mann nähert sich.“ Deren Anführer, der Berufsrevolutionär Wladimir Antonow-Owsejenko, vermerkt: „Die Junker leisteten keinen Widerstand mehr, wir kamen ungehindert ins Innere des Palastes und begangen, die Provisorische Regierung zu suchen.“ Sie wurde 50 Minuten später verhaftet.

Die Opfer: Sechs Tote und jede Menge Schnapsleichen

Die genauen Verluste sind unbekannt: Antonow-Owsejenko meldete sechs gefallene Soldaten, aufseiten der Verteidiger soll es nur Verwundete gegeben haben. Dafür gab es Schnapsleichen haufenweise. Das revolutionäre Fußvolk entdeckte die Weinkeller des Zaren, das Massenbesäufnis setzte sich mit der Plünderung anderer Alkohollager fort. „Ganz Petrograd ist betrunken“, schreibt die Dichterin Sinaida Gippius noch Wochen später.

Eine Zeitenwende spürt kaum jemand. Am nächsten Morgen gehen die meisten Petrograder ihren Alltagsgeschäften nach. Der Umsturz steht noch auf tönernen Füßen, der Bürgerkrieg, der neun Millionen Todesopfer fordern sollte, beginnt. Und die „Roten“ wollen nicht nur gegen die „Weißen“ gewinnen, sondern auch die Deutungshoheit über das Jahr 1917 erobern. Gemeinsam mit sympathisierenden Intellektuellen kreieren sie einen Mythos, „den Sturm auf das Winterpalais“, der von einem Schuss aus der Bugkanone des Panzerkreuzers „Aurora“ eingeläutet wurde.

Kinofilm entfachte den Mythos

Schon der kommunistische US-Reporter John Reed schwärmt in seinem Buch „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ von den mächtigen Fäusten und Kinnhaken der Oktoberrevolutionäre. Den dritten Jahrestag des „Sturms“ feiert man mit einem Massenschauspiel vor Ort. Zum zehnten Jahrestag bestellt die Jubiläumskommission bei dem Regisseur Sergei Eisenstein einen Kinofilm.

Dessen „Oktober“ brannte die Bilder vom bolschewistischen Neumenschen, der stürmt, stirbt und siegt, endgültig in das Bewusstsein der Öffentlichkeit ein. Fotos seiner Massenszenen schafften es als Illustrationen auch in westliche Schulbücher. Die Ereignisse wurden zum dramatischen Heilshöhepunkt der Menschheitsgeschichte verklärt. Obwohl die großen Entscheidungen vorher und danach fielen. Und obwohl sie Russland in eine Katastrophe stürzte.

Lenin punktete mit Schlagworten bei der Armee

Die erste Revolution hatte nämlich schon stattgefunden, im März: Russland war drauf und dran, den Ersten Weltkrieg gegen Deutschland zu verlieren, Hunderttausende Hauptstädter gingen auf die Straße, die Garderegimenter meuterten, der Zar dankte ab. In Petrograd etablierte sich eine Doppelmacht: Die nationaldemokratisch gesonnene Provisorische Regierung wollte den Krieg fortführen. Die lokalen Arbeiter- und Soldatenräte aber gerieten zusehends unter den Einfluss der Bolschewiki Lenins. Der strebte eine „Diktatur des Proletariats“ an.

„Die Bolschewisten siegten, weil sie am zynischsten waren“, sagt der Petersburger Historiker Konstantin Schukow. Die Provisorische Regierung wurde als Kriegspartei immer unpopulärer. Lenin und Genossen aber punkteten mit Schlagworten: Frieden, Brot und Land. Das kam vor allem bei der Armee an, die sich meist aus Bauern rekrutierte. Zumal Lenin damals über die heiklen, linksextremen Punkte seines Programms schwieg: Verstaatlichung, Klassenhass und Weltrevolution.

Auf Zwangsarbeit und Kommandowirtschaft gebaut

Diese kamen dann im Bürgerkrieg und in der Zeit nach Lenins Tod 1924 zum Tragen. Er und sein Nachfolger Stalin gründen den Aufbau des rückständigen und verwüsteten Landes auf Zwangsarbeit und Kommandowirtschaft. Und die Macht wird durch Terror gesichert, der vor nichts und niemandem Halt machte. Nicht nur Millionen Zwangsarbeiter und tatsächliche oder auch nur vermeintliche Staatsfeinde kommen ums Leben. Stalin lässt auch fast die gesamte alte Garde der Revolutionäre umbringen.

Auf dem Höhepunkt der Säuberungswellen und Schauprozesse werden Ende der 30er-Jahre auch Zehntausende Offiziere der Roten Armee hingerichtet. Trotzdem gelingt es dem roten Diktator, im Zweiten Weltkrieg sein Land zum Sieg zu führen, seinen Herrschaftsbereich und die Sowjetmethoden bis nach Mitteleuropa auszudehnen, das Land zur Weltmacht zu erheben. Bis die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten am eigenen ökonomischen und politischen Unvermögen in den Jahren 1989/90 scheitern. Im Ostblock ist nach bester Lenin’scher Definition eine revolutionäre Situation entstanden, die dadurch gekennzeichnet wird, dass „die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“.

Das plant Russland zum 100. Jahrestag

Heute steht Wladimir Putins Russland dem 100. Jahrestag des Oktoberumsturzes ziemlich unschlüssig gegenüber. Einerseits streiten die Experten, wie viele Opfer der Terror der Sowjetzeit gekostet hat. Andererseits feiert man Stalin als Sieger über Hitlerdeutschland. Laut Meinungsforschungsinstitut WZIOM betrachten 46 Prozent der Russen die Folgen des Umsturzes von 1917 positiv, 46 Prozent negativ.

Im Vorfeld gab es einige Historikerkonferenzen, am 25. Oktober eine Lasershow vor dem Winterpalast, am 7. November planen die Kommunisten Straßenumzüge als Ersatz für die früheren Militärparaden, die Stadt Moskau aber ein Schostakowitsch-Konzert. Und landesweit beginnt ein Internetquiz – gewidmet „wichtigen Daten der russischen Geschichte“. Als wolle man den Mythos vom „Großen Oktober“ totschweigen – ohne ihn zu beerdigen.