Berlin. Eine Verträglichkeitsprüfung für die Entscheidungen der neuen Regierung: Das fordert Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der EKD.

  • Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche Deutschlands, appelliert an die nächste Bundesregierung
  • Bedford-Strohm meint, sämtliche Beschlüsse sollten auf ihre globale Verträglichkeit überprüft werden
  • Der EKD-Vorsitzende lehnt eine Obergrenze für Flüchtlinge strikt ab

Dieses Jahr ist ein besonderes für

Die Kirche feiert das 500. Jubiläum der Reformation. Doch bei den Feierlichkeiten belässt es der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche nicht, er fordert die künftige Bundesregierung auf, all ihre Entscheidungen auf ihre Nachhaltigkeit zu überprüfen und sich mehr für die Schwachen im Land einzusetzen. Das, so sagt er, wäre ganz im Sinne Martin Luthers.

Herr Ratsvorsitzender, beten Sie für die Kanzlerin?

Heinrich Bedford-Strohm: Ja. Ich bete für alle, die politische Verantwortung tragen, weil sie sich in vielen Dilemmata-Situationen befinden und schwere Entscheidungen zu treffen haben. Ich bete auch für alle, die in anderen Konfessionen verantwortlich sind. Auch für den Papst. Wenn ich ihn sehe, ist sein letzter Satz immer: Beten Sie für mich.

Wenn Sie am Verhandlungstisch für die Jamaika-Koalition sitzen würden – was wäre Ihnen wichtig?

Bedford-Strohm: Der Klimawandel! Seit Jahrzehnten treten die Kirchen dafür ein, dass Regelungen gefunden werden, die den CO2-Ausstoß weltweit vermindern und den Klimawandel begrenzen. In Deutschland liegt der Pro-Kopf-CO2-Ausstoß bei 9,1 Tonnen pro Jahr, in Tansania bei 0,2 Tonnen. Das zeigt, dass diejenigen, die die ersten Opfer des Klimawandels sind, am wenigsten dazu beigetragen haben. Das wiederum macht deutlich, dass es ein weltweites Gerechtigkeitsproblem gibt. Daher sollte bei jeder Entscheidung, die die neue Bundesregierung trifft, ein „Eine-Welt-Check“ durchgeführt werden.

Heinrich Bedford-Strohm beim Interview.
Heinrich Bedford-Strohm beim Interview. © Reto Klar | Reto Klar

Was verstehen Sie darunter?

Bedford-Strohm: Eine Eine-Welt-Verträglichkeitsprüfung stellt die Frage: Welche Auswirkungen hat die Entscheidung, die hier getroffen wird, auf die schwächsten Glieder der Menschheit?

Was bedeutet das für den Kampf gegen den Klimawandel? Muss Deutschland aus der Kohleenergie aussteigen und den Verbrennungsmotor verbieten?

Bedford-Strohm: Natürlich brauchen wir den Kohleausstieg. Das ist ein dringendes Ziel. Kohle ist ein wesentlicher Faktor für den CO2-Ausstoß. Unser Engagement für die ökologische Umorientierung der Wirtschaft kommt aus den geistlichen Grundlagen der Kirche. Es geht darum, wie gehen wir mit der Natur um, die wir Christen als Schöpfung Gottes bezeichnen. Die Natur ist uns nicht als Besitz gegeben worden, sondern nur zum Bebauen und Pflegen anvertraut.

Aber auch bei der Mobilität muss man so schnell wie möglich, den CO2-Ausstoß verringern. Zu beurteilen, wann andere Antriebsarten die Verbrennungsmotoren letztlich sinnvoll ersetzen können, ist nicht Sache der Kirchen. Aber auch dieser Wandel ist nötig. Dazu gehört aber auch, dass man mit den Arbeitsplätzen der Menschen so umgeht, dass es zu verantworten ist.

Heinrich Bedford-Strohm: „Für Humanität gibt es keine Obergrenze.“
Heinrich Bedford-Strohm: „Für Humanität gibt es keine Obergrenze.“ © Reto Klar | Reto Klar

Welche Flüchtlingspolitik hält der Verträglichkeitsprüfung stand, die Sie vorschlagen?

Bedford-Strohm: Wir haben uns als Kirche immer gegen eine Obergrenze ausgesprochen, weil es für Humanität keine Obergrenze gibt. Es geht also nicht um die Frage, bei welcher Zahl unsere Verpflichtung zur Hilfe erfüllt ist, sondern es geht um die Frage: Wie viel Kraft haben wir? Es ist vor allem unerlässlich, dass wir die Fluchtursachen der Menschen in ihren Ländern bekämpfen müssen.

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    Wie viel Zuwanderung ist verkraftbar?

    Bedford-Strohm: Als Kirchen haben wir nie gesagt, dass Deutschland alle 65 Millionen weltweit auf der Flucht befindlichen Menschen allein aufnehmen kann. Aber wir müssen alles dafür tun, dass Menschen in Würde leben können, auch ohne dass sie nach Deutschland und Europa kommen. Bei diesem globalen Kraftakt müssen alle zusammenarbeiten.

    Die CSU beharrt auf einer Obergrenze für Flüchtlinge. Außerdem möchte sie den Familiennachzug weiterhin einschränken. Ist das unchristlich?

    Bedford-Strohm: Solche Etiketten verteile ich nicht. Aber Familie ist etwas so zentrales, dass es für die Integration schädlich ist, wenn Menschen lange Zeit von ihren Angehörigen getrennt sind. Wenn die aktuellen Prognosen für den Familiennachzug zutreffen, halte ich ihn für verkraftbar. Das sind keine Massen, die da kommen. Zudem haben wir eine humanitäre Verpflichtung, zu helfen. Unser Verantwortungshorizont endet nicht an den bayerischen, deutschen oder europäischen Grenzen.

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      Sprechen Sie auch mit AfD-Politikern über solche Fragen?

      Bedford-Strohm: Ich habe natürlich mit Menschen gesprochen, die sich der Partei zugehörig fühlen. Es gibt aber in der AfD Kräfte, die rechtsextremes Gedankengut salonfähig machen. Und wenn in diesen Punkten keine klaren Trennlinien gezogen werden, gibt es keine Grundlage für offizielle Gespräche.

      Damit blendet die Kirche den Zuspruch aus, den die AfD erfährt.

      Bedford-Strohm: Voraussetzung für offizielle Gespräche wäre, dass es eine gemeinsame Grundorientierung gäbe. Wenn aber zum Beispiel der Begriff „christliches Abendland“ verwendet wird, um andere Menschen auszugrenzen und zu diskriminieren, widerspricht das dem biblischen Zeugnis. Denn Jesus hat nicht gesagt: Liebe deinen christlichen Nächsten wie dich selbst, sondern liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

      Der AfD-Abgeordnete Albrecht Glaser ist bei der Wahl zum Bundestagsvizepräsidenten durchgefallen, weil er Muslimen das Grundrecht der Religionsfreiheit abgesprochen hat. Wie beurteilen Sie das?

      Bedford-Strohm: Die Gleichsetzung aller Muslime mit Fundamentalisten ist unhaltbar, und natürlich sachlich überhaupt nicht richtig. Aber ich erwarte auch von jeder Religion, dass sie ihre eigenen Traditionen kritisch prüft, ob sie zum Hass aufrufen oder ob sie Kräfte des Friedens sind. Das ist auch für die christlichen Religionen immer eine Aufgabe gewesen. Eine Theologie, die zum selbstkritischen Umgang mit eigenen Traditionen erzieht, ist in jeder Religion unerlässlich.

      Tragen muslimische Feiertage zur Integration bei?

      Bedford-Strohm: Es gibt für Muslime auch heute bereits die Möglichkeit, sich an ihren Feiertagen freizunehmen. Das religiöse Leben und die Glaubensfreiheit für Muslime ist damit gewährleistet.

      Gerechtigkeit ist ein biblisches Schlüsselwort, im Wahlkampf wurde es stark strapaziert, haben Sie sich über die Konjunktur dieses Wortes gewundert?

      Bedford-Strohm: Wenn das ernst gemeint ist, dann begrüße ich das sehr. Die Option für die Armen ist ein biblisches Grundmotiv; zur Verdeutlichung zitiere ich Matthäus 25, das Gleichnis vom Weltgericht: „Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen.“ Das zeigt, dass auch Gottes Sohn fremd und arm war. Wenn man das ernst nimmt, dass sich Gott in Menschen zeigt, die ganz unten sind, dann kann man gar nicht anders, als die weltweite Ungerechtigkeit als Skandal zu sehen.

      Ist Deutschland ein ungerechtes Land?

      Bedford-Strohm: Ich freue mich über die soziale Grundstruktur unseres Landes, die jeden Menschen mit Existenziellem versorgt. Aber Gerechtigkeit hat auch etwas mit Teilhabe zu tun. Und Armut ist fehlende Teilhabe. Daher ist es ein großes Pro­blem, dass die Ungleichheit in unserem Land immer größer wird. Von dem großen Wohlstand profitieren eben nicht alle. Wir können uns nicht damit zufrieden geben, dass drei Millionen Kinder in Deutschland in Armut leben. Die werden in die Zustände hineingeboren und können am allerwenigsten dafür.

      Was soll die Politik unternehmen?

      Bedford-Strohm: Bildung ist eine wichtige Voraussetzung für Teilhabe. Nach wie vor ist es für ein Kind in Deutschland schwierig, einen hohen Bildungsabschluss zu erreichen, wenn die Eltern aus einer bildungsfernen Schicht kommen. Daher muss mehr Geld in die Hand genommen werden, um die Kinder individuell an Schulen und Kindertagesstätten zu fördern. Auch die Altersarmut und der Niedriglohnsektor müssen ins Zentrum der Debatte. Menschen, die heute im Niedriglohnsektor arbeiten, werden später keine auskömmlichen Renten haben. Dass Menschen, wenn sie alt sind, auf Stütze angewiesen sind, obwohl sie ein Leben lang gearbeitet haben, das ist einfach nicht gerecht.

      Tun die Reichen in diesem Land genug?

      Bedford-Strohm: Viele Menschen, die über viel Geld verfügen, empfinden eine tiefe soziale Verantwortung. Aber es gibt natürlich auch welche, die weisen diese Verantwortung zurück. Die glauben: „Ich bin ein Selfmademan.“ Denen antworte ich: Es gibt keinen „Self-made-man“, es gibt nur einen „God-made-man“. Menschen sind von Gott geschaffen, nicht aus sich selbst heraus. Und wer einigermaßen ehrlich zu sich ist, sieht überall Menschen, die ihm auf seinem Weg geholfen haben, das zu werden, was er ist. Und auch das zu haben, was er hat.

      Einer, der soziale Schieflagen fest im Blick hatte, war Martin Luther. Deutschland feiert in diesem Jahr das 500. Jubiläum seiner Reformation. Was kann die Politik aus diesem Datum ableiten?

      Bedford-Strohm: Der Reformationstag ist für mich ein Tag der Freiheit. „Freiheit eines Christenmenschen“ ist der Titel der wichtigsten Schrift Martin Luthers. Darin steckt die Ermutigung zur Zivilcourage. Das brauchen wir heute auch, Mut, keine Angst vor Autoritäten, Zivilcourage in den öffentlichen Debatten. Mit Freiheit ist aber nicht die persönliche Selbstoptimierung gemeint, sondern Freiheit bringt im Sinne Luthers auch immer Verpflichtungen mit sich. Ich bin frei zum Dienst am Nächsten, so würde Luther sagen. Das ist hochaktuell. Und Freiheit darf man auch nie ohne soziale Gerechtigkeit verstehen. Und da sind wir wieder bei der Teilhabe der Schwachen, die muss gewährleistet sein.

      Sollte der Reformationstag jedes Jahr ein staatlicher Feiertag sein?

      Bedford-Strohm: Zunächst einmal bin ich froh darüber, dass es 2017 so ist. Wenn es nun Stimmen aus der Politik gibt, das beizubehalten, bin ich natürlich nicht unglücklich darüber. Was dieses Jubiläumsjahr wirklich so besonders macht, ist, dass wir auch mit den Menschen, die nicht der Kirche angehören, wieder stärker ins Gespräch über Gott gekommen sind. Die Reformation hat die Deutschen neugierig gemacht. Dabei hat die Tatsache, dass evangelische und katholische Christen erstmals ein rundes Reformationsgedenken gemeinsam gefeiert haben, bestimmt eine große Rolle gespielt.