Brüssel. Theresa May hat keinen leichten Stand gegenüber den anderen Regierungschefs. Großbritannien macht es sich aber auch selbst schwer.

Spät am Abend, bei Schellfisch und Fasan mit Steinpilzen, unternimmt die britische Premierministerin Theresa May noch einen letzten, vergeblichen Rettungsversuch. Kann sie beim Dinner der 28 EU-Regierungschefs ihre Kollegen doch davon überzeugen, den Weg freizugeben für rasche Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen EU und dem Vereinigten Königreich? Erhält May grünes Licht, wäre die Gefahr eines harten, chaotischen EU-Ausstiegs Großbritanniens ganz ohne Vertrag abgewendet – und ihre Gegner in London besänftigt.

Man dürfe sie „nicht in die Ecke stellen“, ermahnt die Premierministerin ihre 27 Kollegen. Sie brauche einen Deal, „den wir vor unseren Leuten verteidigen können“, so zitieren Teilnehmer aus der vertraulichen Runde. Sie habe doch schon ein großes Risiko auf sich genommen mit der Thematisierung von Finanzfragen, meint May. Doch konkrete Zusagen vermeidet sie. Und das offene Eingeständnis der innenpolitischen Nöte hilft am Ende nichts.

Auch die britische Wirtschaft klagt immer lauter

Gut zwölf Stunden später ist besiegelt: Ohne ordentliche Scheidungspapiere wird die EU erst gar keine Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU führen, so beschließt es der Gipfel in Abwesenheit von May. Fortschritte könne es nur mit einem finanziellen Angebot der Briten geben, stellt der niederländische Premier Mark Rutte beim Dinner klar und erinnert May daran, das habe er ihr ja bereits am Telefon erklärt.

Merkel sieht Bewegung in Brexit-Verhandlungen

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    Der österreichische Kanzler Christian Kern sagt: „Wenn man bei dem Brexit bleiben möchte, ist jetzt langsam der Zeitpunkt, die Karten auf den Tisch zu legen.“ Auch Merkel sagt später, sie habe von May nichts gehört, was ihre Haltung verändere.

    Wie geht es mit Irland und Nordirland weiter?

    Über die künftigen Beziehungen zu Großbritannien will man erst sprechen, wenn „ausreichende Fortschritte“ bei den wichtigsten Trennungsfragen erzielt worden sind – was beim nächsten EU-Gipfel im Dezember so weit sein kann, aber nicht muss. Dazu gehören die Rechte der EU-Bürger im Königreich und der Briten in der EU – und die Zusage Londons, finanzielle Verpflichtungen anzuerkennen, die von der EU auf 60 bis 100 Milliarden Euro beziffert werden. Zudem muss der Grenzstatus zwischen EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland geklärt werden.

    May hat "ambitionierte" Pläne für Brexit-Verhandlungen

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      Gewiss, es habe Fortschritt gegeben, mit einer Rede in Florenz habe May die Bereitschaft zur Zahlung der Abschlussrechnung signalisiert, heißt es. Aber all das reiche nicht, in den Verhandlungen habe sich das Signal nicht niedergeschlagen. May steht unter Druck, ihr Spielraum für Zugeständnisse ist aus ihrer Sicht ausgereizt, ein Teil ihrer Partei droht schon mit dem Aufstand. Frühere Kabinettsmitglieder drängen, die Verhandlungen abzubrechen, sollte die EU nicht endlich über die Handelsbeziehungen sprechen wollen. Auch die britische Wirtschaft klagt immer lauter, endlich Klarheit über die Ausstiegsbedingungen zu schaffen.

      Deutschland und Frankreichen pochen auf harte Linie

      Merkel gibt sich versöhnlich: Eine Einigung könne gelingen, da habe sie „eigentlich gar keinen Zweifel“. Aber die Zeit wird knapp. Es sind vor allem Deutschland und Frankreich, unterstützt von Ländern wie den Niederlanden, die auf die harte Linie pochen. Das Kalkül in Berlin: Die überraschend starke Geschlossenheit der 27 EU-Staaten soll so lange wie möglich aufrechterhalten werden. Wird erst über die Handelsbeziehungen geredet, so die nur intern diskutierte Befürchtung in der Bundesregierung, dürfte es mit der Einigkeit vorbei sein, deshalb sollen wenigstens die Ausstiegsmodalitäten vorher geregelt werden.

      Ein Beamter aus der interministeriellen Brexit-Task-Force der Bundesregierung sagt: „Wir erleben jetzt nur Phase eins der Verhandlungen – die der größten Harmonie. Aber diese Harmonie ist auf diese Phase begrenzt. In Phase zwei, wenn es um die Zukunft geht, wird die Vielfalt der Interessen zunehmen.“ Bereits im Frühjahr, prophezeit der Brexit-Experte, werde die gute Stimmung vorüber sein. Merkel deutet es auf dem Gipfel nur vorsichtig an: „Die zweite Etappe wird ungleich komplizierter.“

      Großbritannien ist großer Zahler in EU-Topf

      Schon das Mandat für die EU-Kommission zu formulieren, werde schwer. Deutschland als große Exportnation hat immenses Interesse am reibungslosen Handel mit der Insel ohne komplizierte Zollregelungen; andere EU-Staaten sorgen sich eher um EU-Fördermittel, wenn London als Nettozahler ausfällt. Weil die Briten das wissen, lassen sie seit Monaten nichts unversucht, die Front der Kontinentaleuropäer mit Lockungen und Drohungen zu spalten. In ganz Europa suchten britische Unterhändler Alliierte, berichten EU-Diplomaten. Die Hoffnung hat zwar getrogen, dass die Automobilhersteller oder andere Industrie­branchen rasch massiven Druck auf die nationalen Regierungen ausüben würden, um unkomplizierte Geschäfte mit dem Königreich zu sichern.

      Doch beim Handel und den Bauern scheint London erfolgreicher zu sein; dort melden sich erste Verbände in Brüssel und Berlin mit scharfen Warnungen, die vor neuen Hürden etwa bei Regulierungen warnen. Vielleicht auch deshalb wird als kleines Entgegenkommen an die Briten jetzt in Aussicht gestellt, immerhin mit den internen Vorbereitungen für die nächste Etappe der Gespräche zu beginnen. Aber das Zugeständnis ist in Wahrheit keines: EU-Chefverhandler Michel Barnier und seine Truppe arbeiteten ohnehin längst an den Zukunftsfragen, berichten EU-Diplomaten. „Der braucht keinen Auftrag von uns.“ Genauso aber bereite sich die Kommission auch auf einen harten Brexit vor, um ein mögliches Chaos zu vermeiden. Auch May stellt klar, dass Großbritannien sich weiter auf die Möglichkeit eines ungeregelten Austritts aus der EU vorbereitet. Als sie den Gipfel verlässt, sagt sie, ihre Regierung wolle „auf alle Eventualitäten“ eingestellt sein.