Potsdam. Seit der Affäre um rechtsextreme Umtriebe berät die Bundeswehr über Traditionspflege. Wie umgehen mit der militärischen Vergangenheit?

Worauf die Bundeswehr stolz sein darf, darauf weiß der Historiker Stig Förster eine naheliegende Antwort: Auf sich selbst, auf ihre Geschichte, „die inzwischen lang genug ist“. 62 Jahre ist sie alt, damit älter als die Reichswehr und die Wehrmacht zusammen. Gut möglich, dass Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) Försters Rat beherzigen wird oder – noch wahrscheinlicher – ihn längst zur Richtschnur für den geplanten neuen „Traditionserlass“ gemacht hat.

Jahre der NS-Diktatur sind eine hoch kontaminierte Zeit

Wie viel Wehrmacht steckt in der Truppe? 40.000 frühere Wehrmachtssoldaten, darunter 40 Generäle und 800 Ritterkreuzträger, halfen beim Aufbau. Auf die Widerstandskämpfer gegen die NS-Diktatur hat sich die Bundeswehr später berufen. Ansonsten gelten die Jahre 1933 bis 1945 als „hoch kontaminierte Zeit“, wie der Berliner Historiker Herfried Münkler auf einem Workshop in Potsdam sagte.

Seit dem Frühsommer, seit der Affäre um rechtsextreme Umtriebe in der Truppe, beraten die Militärs auf Geheiß der Ministerin über Traditionspflege. Dazu fanden drei Workshops statt. Von der Leyen, aber auch Generalinspekteur Volker Wieker waren in Potsdam nahezu den ganzen Tag lang dabei. Von der NVA, von der Armee der DDR, war dort nur in Randbemerkungen die Rede. Sie spielt bei der Debatte keine relevante Rolle. Eine vierte Runde soll Anfang November folgen.

Wissenschaftler empfiehlt zusätzlich „Ethik-Kodex“

Danach soll der bisher geltende Erlass aus dem Jahr 1982 erneuert werden, womöglich sogar noch vor der Bildung einer neuen Regierung. Er passe, zumindest in Teilen, nicht in die heutige Zeit, meinte Brigadegeneral Alexander Sollfrank, Kommandeur des Kommandos Spezialkräfte. 1982 war die Bundeswehr zum Beispiel noch gar nicht an Auslandseinsätzen beteiligt. Der Wissenschaftler Michael Wolffsohn legte darüber hinaus der Ministerin auch einen „Ethik-Kodex“ für die Truppe nahe – also ein Wertefundament. Das sei „extrem wichtig“, unterstützte ihn der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels.

Vom Erlass erhoffen sich die Soldaten ganz praktisch mehr Verhaltenssicherheit im Alltag. Sie wollen wissen, was noch erlaubt ist, welche Symbole im Spind oder als Tätowierung auf der Haut; und was ihre Dienstaufsicht noch zulassen darf. Darüber hinaus geht es darum, wie in den Kasernen mit der militärischen Vergangenheit umgegangen wird, wie sie zur Schau gestellt wird.

Truppe ist nach von der Leyens Schelte verunsichert

Die Verunsicherung ist groß, seit von der Leyen der Truppe ein „Haltungsproblem“ bescheinigte. Nach dem Fall des rechtsextrem gesinnten Oberleutnants Franco A., der sich als syrischer Migrant ausgab und mutmaßlich einen Anschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft plante, ließ von der Leyen die Kasernen nach Wehrmachtsdevotionalien durchforsten, zeitweise wurde sogar ein Bild von Altkanzler Helmut Schmidt abgehängt, weil er in Wehrmachtsuniform gezeigt wurde.

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Seither sind die Kasernen „leer“, wie ein Teilnehmer sagte. Aus lauter Unsicherheit traut man sich nicht mehr, irgendetwas Historisches auszustellen.

Viele Kasernen tragen umstrittene Namen

Der Punkt, der die Öffentlichkeit am meisten, die Soldaten häufig am wenigsten befremdet, sind die Namen einzelner Kasernen. Die Liste der umstrittenen Namen ist lang: die Feldwebel-Lilienthal-Kaserne in Delmenhorst, die Lent-Kaserne in Rotenburg, die Emmich-Cambrai-Kaserne in Hannover, die Ernst-Moritz-Arndt-Kaserne in Hagenow, die Marseille-Kaserne in Köln, die Hindenburg-Kaserne oder auch die Schulz-Lutz-Kaserne (zwei Panzergeneräle der Wehrmacht) in Munster.

Die Soldaten haben nach der Analyse von Brigadegeneral Kai Rohrschneider ein „besonderes Verhältnis zur Militärgeschichte“. Sie sind sich des Dilemmas bewusst, „dass auch die großartigste militärische Leistung damit verbunden ist, dass sie auf der anderen Seite Menschen töten“. Wenn ein Geschwader nach einem Piloten wie Helmut Lent benannt wird, nach einem Nachtflieger mit einer Rekordzahl an Abschüssen, geht es um seinen Erfolg, das fliegerische Können, das Kriegshandwerk.

Christian Hartmann vom Institut für Zeitgeschichte hält auch General Erwin Rommel, den „Wüstenfuchs“, für traditionswürdig. „Etwas Rommel hätte die Bundeswehr dringend nötig.“ Dagegen mahnte Wieker, Fachlichkeit und Sittlichkeit müssten zusammenpassen. Kurz: Ohne Wertebildung sind handwerkliches Können und Tapferkeit hohl. Maßstab für Traditionspflege ist: das Grundgesetz.

Was bietet dem Soldaten eine Orientierung im Gefecht?

In größere Gefechte war die demokratische Armee, die Bundeswehr, bisher nicht verwickelt. Und wenn doch, etwa in Afghanistan, wird es geheim gehalten und erst in Jahrzehnten bekannt werden. Was also könnte Identität stiften? Der erste große Hilfseinsatz bei der Hamburger Sturmflut des Jahres 1962? Oder beim Oder-Hochwasser 1997? Der Einsatz in der Flüchtlingskrise?

Das sind allerdings Beispiele, die den Soldaten kaum Orientierung in Gefechtssituationen und vor allem keine Emotionen bieten können, wie Brigadegeneral Sollfrank warnte. Also suchen sie sich mitunter andere, auch falsche Vorbilder. Unterschwellig, hieß es denn auch in Potsdam, sei in der Truppe der Bezug zur Wehrmacht immer da.