New York. Außenminister Gabriel präsentiert sich auf der ganz großen Bühne. Bei der UN-Generalversammlung wirbt er für eine Entspannungspolitik.

Dies sind die Tage, an denen Außenminister Sigmar Gabriel alle Rollen verkörpert, die in ihm stecken. Mal gibt er den diplomatischen Feuerwehrmann an den Brandherden der Welt, mal den Chefadjutanten des in schwere Wetter geratenen SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Gabriel beherrscht die komplette Sprachklaviatur vom abgewogen formulierenden Krisenmanager bis hin zum Vollblut-Wahlkämpfer, der zuspitzt, überzeichnet und verzerrt. Dann ist er ein Frontmann der Abteilung Attacke, stichelt gegen seine Chefin, Bundeskanzlerin Angela Merkel, oder poltert gegen den Nochkoalitionspartner CDU/CSU.

Am Mittwoch ist der Außenminister ganz Regierungsvertreter. Er trifft die Großen und Mächtigen der internationalen Politik in New York. Eine Woche lang diskutiert die Generalversammlung der Vereinten Nationen über die brisantesten Konflikte. Weltpolitik im Durchlauferhitzer. Und Gabriel mittendrin. Am Mittag tritt der Minister, dunkler Anzug und grüne Krawatte, mit ernster Miene vor die Presse. Er warnt vor den Nuklearplänen Nordkoreas und der „Gefahr eines weltweiten Wettrüstens“. Seinen eigenen Vorstoß, dass Amerika, China und Russland mit dem Regime direkt verhandeln sollen, hält er für salonfähig.

Peking und Moskau könnten Drähte nach Nordkorea gelegt haben

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    Die verbale Keule, die US-Präsident Donald Trump bei seinem ersten Auftritt vor den UN am Dienstag herausholte und dem steinzeitsozialistischen Land mit „völliger Vernichtung“ drohte, kritisiert Gabriel zwar als „kriegerische Rhetorik“. Er verweist aber gleichzeitig auf das „weitgehende Angebot“ von US-Außenminister Rex Tillerson, der Pjöngjang mit einer Nichtangriffsgarantie ködern will. In diplomatischen Kreisen wird kolportiert, dass Washington, Peking und Moskau bereits unter dem Radarschirm der Öffentlichkeit Drähte nach Nordkorea gelegt hätten.

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      Dabei werde ein Mechanismus der Deeskalation besprochen: Nordkorea lege sein Atom- und Raketenprogramm auf Eis, Amerikaner und Südkoreaner würden ihre Manöver reduzieren. Der 58-Jährige legt während seines zweitägigen Abstechers ein wahres Mammut-Programm hin, redet mit seinen Amtskollegen aus den USA, China, Russland, der Ukraine, dem Iran, Saudi-Arabien, Japan. Gabriel macht den Job im Außenamt erst seit rund acht Monaten. Doch bereits heute wirkt er wie ein Routinier. Mit abgespeckter Statur und kantigerem Gesicht kommt er dynamischer und eine Spur leichtfüßiger rüber.

      Gabriel will militärische Auseinandersetzungen gern vermeiden

      Gabriel ist zwar erkältet, seine Stimme von mehr als 50 Wahlkampfauftritten in Deutschland heiser. Doch es macht ihm offensichtlich Spaß, am großen Rad in New York mitzudrehen. Seine Devise: Brücken bauen, zuhören, im Gespräch bleiben, militärische Auseinandersetzungen möglichst vermeiden. Als Blaupause für eine Verhandlungslösung mit Nordkorea sieht der Außenminister den Atomdeal mit dem Iran. Allerdings macht Trump Front gegen die Übereinkunft mit dem Mullah-Staat und könnte Mitte Oktober in seinem Bericht an den US-Kongress den Ausstieg seines Landes empfehlen.

      „Eine Zerstörung des Nuklearabkommens wäre ein großer Rückschritt“, mahnt Gabriel. Diktatoren könnten sich weltweit ermuntert fühlen, rasant aufzurüsten. Er setzt auf den gemeinsamen Schulterschluss zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien zur Rettung der Vereinbarung. Dagegen rechnet der Außenminister mit Bewegung im Ukraine-Konflikt. Der Vorstoß von Russlands Präsident Wladimir Putin, Blauhelmsoldaten der UN im gesamten Osten des Landes stationieren zu wollen, bringe neuen Schwung in die Gespräche.

      Neuauflage der Entspannungspolitik à la Willy Brandt

      Würde Moskau Zugeständnisse machen und einen Waffenstillstand samt Abzug von schwerem Gerät ermöglichen, sollten die Sanktionen schrittweise gelockert werden. Ohne Russland, so Gabriel, gebe es kaum Aussicht auf eine Entschärfung der globalen Konflikte. Der Außenminister strebt eine Neuauflage der Entspannungspolitik à la Willy Brandt in der 70er- Jahren an, das große Markenzeichen der SPD-Außenpolitik. Annäherung und Vertrauensbildung sind die Schlüsselwörter. Wenn er auf Wahlkampfveranstaltungen seiner Partei über Friedenspolitik, Diplomatie und Abrüstung spreche, stoße er auf hohe Zustimmung, sagt Gabriel. Viel geholfen hat es der SPD bislang nicht.

      Nach einem kurzen Schulz-Hype im Frühjahr dümpeln die Sozialdemokraten in den Meinungsumfragen derzeit bei 22 bis 23 Prozent. Im Flieger nach New York wirkt der Minister trotzdem entspannt, sitzt mit grauer Wolljacke und heller Hose in der Kabine. Auf dem Tisch steht eine Tasse Tee. Stille Genugtuung, dass der einstige Hoffnungsträger Schulz heute mit ähnlich schlechten Werten kämpft wie er selbst vor einem Jahr?

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        SPD als Juniorpartner in einer großen Koalition

        Der Verzicht auf Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur scheint Gabriel keine Phantomschmerzen zu bereiten. Er sieht eher aus wie einer, der mit sich im Reinen ist. Dass er auf seinem Posten gern weitermachen würde, hat er mehrmals betont. Dazu müssten die Sozialdemokraten aber – wenn nicht noch ein Wunder geschieht – erneut als Juniorpartner in eine große Koalition. An der Basis ist der Appetit hierauf gering. Im Establishment der Partei kursiert hingegen die Lesart, Merkel habe den Zenit ihrer Macht überschritten und könne besser in der Regierung als aus der Opposition heraus bekämpft und abgelöst werden.

        Gabriel, so scheint es, will sich da nicht festlegen. In New York muss er es auch nicht. Der 48-Stunden-Marathon als Deutschlands Chefdiplomat bindet alle Kräfte. Am Freitag ist das schon wieder anders. Abends nimmt er an einer Schlusskundgebung mit Schulz auf dem Berliner Gendarmenmarkt teil. Dann kommt wieder Gabriel, der Vollblutwahlkämpfer.