Berlin. Bundesweit fehlen 2000 Richter und Staatsanwälte. Die große Koalition macht wegen der unterbesetzten Strafjustiz Druck auf die Länder.

Der Justiz fehlen bundesweit Schätzungen zufolge 2000 Richter und Staatsanwälte. Nach der Polizei dringen auch sie jetzt auf mehr Personal. In der großen Koalition finden sie leichthin Fürsprecher. Für Einstellungen müsste schließlich nicht der Bund aufkommen, sondern vielmehr die Bundesländer. Die Chronik eines angekündigten Infarkts.

Anfang Dezember 2016 sitzt Volker Kauder in Essen auf dem CDU-Parteitag, der Fraktionschef blättert in der „Stuttgarter Zeitung“. Was er liest, empört ihn aufrichtig. Gerade hat das Oberlandesgericht Karlsruhe einen notorischen Drogenhändler nach 14 Monaten Untersuchungshaft entlassen. Die Richter bezweifeln weder eine Fluchtgefahr noch einen Tatverdacht. Sie entlassen den Mann aus einem einzigen Grund: Weil die Justiz überlastet und unklar ist, ob das Verfahren in einem vertretbaren Zeitraum fortgesetzt wird.

Druck auf die Länder

Der Fall lässt Kauder nicht los. Fast drei Monate und mehrere Gespräche später setzt er einen Brief an Bundesjustizminister Heiko Maas auf. Darin bittet er den Sozialdemokraten, Druck auf die Länder auszuüben. Sie sollen die Gerichte personell besser ausstatten. Angesichts der aktuellen Situation vertrage das Anliegen keinen Aufschub, schreibt er. „Der Bundesjustizminister, der sich ja schnell für dies und das engagiert, hat die Situation auch nie richtig zum Thema gemacht“, klagt er gegenüber dieser Redaktion, „ein schweres Versäumnis“.

Einem Außenstehenden wie Kauder geben allein zwei Zahlen zu denken: Den rund 3,5 Millionen Straftaten, die jedes Jahr von der Polizei aufgeklärt werden, stehen 5200 Staatsanwälte gegenüber. Diese Schieflage dürfte noch größer werden, weil Bund und Länder zuletzt die Polizei massiv ausgebaut haben. „Wenn die Polizei aufgestockt wird, wird sie auch mehr Verfahren anstoßen“, erläutert der Geschäftsführer des Deutschen Richterbundes, Sven Rebehn. „Dann wird die Justiz zum Flaschenhals“, sagt er dieser Redaktion.

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    Zahlreiche neue Verfahren

    Dabei fehlen nach einer Umfrage des Richterbundes heute schon 2000 Stellen. Der Bedarf ergibt sich aus fehlenden oder nicht besetzten Planstellen, wenn jemand in ein Ministerium oder an die Bundesgerichte abgeordnet wird, in Elternzeit geht, oder länger krank ist. Bei den Verwaltungsgerichten ist der Engpass relativ neu. Sie haben im Zuge der Flüchtlingskrise zahlreiche neue Verfahren bekommen, „daran wird sich nach den Fallzahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge auch in den nächsten zwei, drei Jahren nichts ändern“, sagt Rebehn voraus.

    Über je mehr Asylanträge entschieden wird, desto häufiger sind die Klagen von Migranten. Viele Flüchtlinge erhalten nur subsidiären Schutz. Der Status hat den Nachteil, dass sie zunächst nur zeitlich befristet hier bleiben und ihre Familien nicht nachholen dürfen. Viel steht auf dem Spiel, also ziehen die Menschen vor Gericht; und oft den ganzen Instanzenweg lang.

    Alarmierende Entwicklung

    Bei der chronisch unterbesetzten Strafjustiz haben wiederum die zahlreichen Terrorismusverfahren die Situation verschärft. Kauder spricht von einer generell alarmierenden Entwicklung, „die viel zu wenig beachtet wird“. „Besonders bedenklich“ findet der CDU-Mann, „dass nun selbst beim Generalbundesanwalt Stellen fehlen“ – ausgerechnet für die Terrorismusverfolgung. Etwa 15 Stellen. „Ein Unding“, sagt auch Richterbund-Mann Rebehn. In einem Brandbrief an die Landesjustizminister hatte Generalbundesanwalt Peter Frank gewarnt, dass die „Grenzen der Leistungsfähigkeit“ erreicht seien.

    Dabei sind seine Stellen längst genehmigt. Bloß: Frank kann sich die Bewerber nicht wie frische Äpfel vom Baum aus der Universität holen, er braucht in der Behörde versierte Staatsanwälte. Die bekommt er nur, wenn die Länder die Juristen nach Karlsruhe abordnen, aber dann wird deren Personaldecke dünner. Deswegen zögern sie. „Es kann nicht sein, dass zwar die notwendigen Stellen vorhanden sind, sie aber wegen fehlender Mitwirkung der Länder nicht besetzt werden können“, sagt Justizminister Maas dieser Redaktion.

    Ermessensspielraum nutzen

    Als Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) auf das Reizthema angesprochen wird, verteidigt sie sich mit dem Hinweis, „Karlsruhe hat allein 2016 schon 33 große Terrorverfahren an die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf abgegeben, dreimal so viel wie im Vorjahr.“ Da wird ein Muster deutlich: Saniert sich jede Ebene auf Kosten der anderen? Es gibt Warnzeichen, die für den Bürger alarmierender sind. Während 2005 noch 21,7 Prozent der Verfahren eingestellt wurden, waren es zehn Jahre später 28,5 Prozent.

    Angesichts der Überlastung wissen sich Staatsanwälte nicht anders zu helfen, als ein Verfahren wegen geringer Schuld ohne Auflagen einzustellen. Akte geschlossen. Sie haben den Ermessensspielraum und nutzen ihn, schon zum Selbstschutz. Krass sind Fälle, in denen Gefangene wie in Karlsruhe vorzeitig aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Aktuelle Zahlen darüber fehlen. Eine dpa-Umfrage für 2014 und 2015 ergab, dass solche Fälle zwei-, dreimal im Jahr in fast jedem Land vorkommen.

    „Strafrabatt“ wegen langer Verfahren

    „In fast jedem dritten Wirtschaftsstrafverfahren muss das Gericht einen Strafrabatt geben, weil das Verfahren zu lange gedauert hat“, sagt Rebehn, „da bekommen wir am Ende ein Gerechtigkeitsproblem.“ Auch die Dauer der Strafverfahren an den Landgerichten hat zugenommen. 2005 lag sie bei 3,2 Verhandlungstagen, 2015 bei 4,3 Tagen.

    Das geht freilich nicht nur auf personelle Engpässe zurück. Vielmehr sind die Verfahren komplexer geworden, auch der Umfang der digitalen Beweismittel ist gestiegen, vor allem in der IT-Kriminalität. Neben allem anderen haben die Gerichte ein Modernisierungsproblem: fehlendes Know-how, aber auch Technik, etwa Analyse-Tools.

    Zeitalter der Schuldenbremse

    Minister Maas weiß, dass die Länder jahrelang ihre Justiz auf Verschleiß gefahren haben. Die besten Gesetze nützten nichts, „wenn sie nicht vollzogen werden können“, warnt er. Andernfalls verlören die Menschen das Vertrauen. „Wenn wir unseren Rechtsstaat durchsetzen wollen, dürfen wir ihn nicht kaputtsparen.“ Im Zeitalter der Schuldenbremse sei zu viel gespart worden, „da müssen die Länder dringend gegensteuern und viele haben damit auch schon begonnen.“ Maas ist in einer delikaten Situation. Riskiert er den Konflikt mit den Ländern, lassen sie ihn womöglich auflaufen.

    Die meisten von ihnen sind Parteifreunde. Das erklärt wiederum die auffällige Beißhemmung. Nun heißt es , dass für das SPD-Wahlprogramm die Forderung nach Tausenden neuen Stellen bei der Polizei geplant ist. Der Richterbund wurde aber auch bereits gebeten, ebenfalls seinen Wunschzettel vorzutragen. Im Sommer steht Deutschland womöglich ein Wahlkampf um mehr Stellen für die Justiz bevor. Kauder hat ihn mit dem Brief an diesem Wochenende eröffnet.