Berlin. Martin Schulz punktet mit dem Charme des Neuen – und die CDU schaut staunend zu. Muss auch Angela Merkel es nun mehr menscheln lassen?

Es ist schon verrückt: Drei Jahre lang hatte die SPD ihre Projekte in der schwarz-roten Koalition nach allen Regeln der sozialdemokratischen Kunst durchgedrückt: Rente mit 63, Mindestlohn, Mietpreisbremse, Frauenquote. Allein: Die politischen Erfolge schlugen sich nicht nieder in den Meinungsumfragen. Die Partei verharrte wie zementiert bei 23 Prozent. Sachpolitik, so schien es, wird vom Bürger nicht honoriert. Die Folge: Ratlosigkeit und Depression in Reihen der Genossen.

Doch dann kam Schulz.

Plötzlich ist die SPD attraktiv

Ohne auch nur ansatzweise ein Programm zu verkünden, ließ allein der Ende Januar angekündigte Wechsel an der Parteispitze von Sigmar Gabriel zu Martin Schulz die Werte für die SPD förmlich durch die Decke schießen. Die SPD überholte die CDU in einigen Umfragen – das gab es seit zehn Jahren nicht mehr.

Und warum das Ganze: Weil es Schulz, 61 Jahre alt, gelang, sich gegenüber dem immerhin vier Jahre jüngeren Gabriel als das frischere und unverbrauchtere Gesicht zu präsentieren. Plötzlich ist die SPD hip.

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    Stimmungen wichtiger als Reformen

    Ungeachtet der Frage, was den Neuen für viele Wähler so attraktiv zu machen scheint, stellen sich weitere Fragen: Schlagen Emotionen politische Erfolge? Sind Stimmungen wichtiger als Gesetze und Reformen? Geht es in der Politik also mehr um das „Wie“ als um das „Was“?

    Der bayerische Finanzminister Markus Söder sieht das offenbar so. „Es wird die Kernfrage sein, wie wir in diesem Wahlkampf emotionalisieren“, analysierte der CSU-Stratege in einem Interview mit der „Welt“. Es genüge eben auch für die Union nicht mehr, „erfolgreiche Regierungsarbeit nur wie eine Bilanzpressekonferenz vorzustellen“, so Söder.

    „Merkel muss zur Kämpferin werden“

    Emotionalisieren – ist das der Weg für die Union, den Schulz-Hype zu bremsen? Mit einer Spitzenkandidatin Angela Merkel, die – bei allem Rückhalt, den sie in großen Teilen der Bevölkerung weiterhin genießt – nicht eben als Spezialistin für die gefühlsbetonte Ansprache gilt? Lässt Merkel es künftig menscheln?

    Der Politikberater und frühere Unions-Wahlkampfstratege Michael Spreng glaubt, CDU und CSU hätten noch kein Mittel gegen Schulz gefunden, der „Leidenschaft und Emotionen“ ‘rüber bringe: „Er brennt geradezu.“ Die Union dagegen wirke eher „verwirrt und desorientiert“, sagte Spreng dem Radiosender SWR 2. Und Angela Merkels bisher bevorzugte Wahlkampf-Taktik, „die Wähler einzuschläfern“, greife nicht mehr. „Sie muss zur Kämpferin werden“, forderte Spreng.

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      Riskanter Rollenwechsel für die Kanzlerin

      Solch ein Rollenwechsel könnte der Kanzlerin aber nicht leicht fallen. Und er wäre zudem riskant. Strahlte Merkel bislang eher Gelassenheit und Verlässlichkeit aus, so könnte ihr ein abrupter Image-Wechsel als Kalkül ausgelegt werden – und an ihrer Glaubwürdigkeit kratzen. „Eine Kanzlerin, die plötzlich die Rampensau gäbe, erschiene bloß als bemühtes Schulz-Imitat“, umschrieb der Berliner „Tagesspiegel“ treffend das Dilemma der Union.

      Bei ihrem Auftritt auf dem Parteitag ihres Heimat-Landesverbandes Mecklenburg-Vorpommern am Samstag gab sich Merkel jedenfalls eher zurückhaltend-staatsmännisch denn offensiv. „Ich würde mich freuen, wenn wir so stark sind, dass ich auch wieder Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland sein kann. Es ist eine Ehre, Deutschland zu dienen“, erklärte die CDU-Chefin in Stralsund. Kämpferinnen klingen anders.