Göttingen/Berlin. Die Polizei fasst in Göttingen zwei Salafisten. Was sie planten, sagt die Polizei nicht. Nur: Ein Anschlag war jederzeit möglich.

Die Fahne der Terroristen liegt nur ein paar Meter neben Uwe Lührig, ausgebreitet auf dem Tisch vor den Kameras der Journalisten. Schwarz, goldene Fransen am Rand, in der Mitte das „Siegel des Propheten“, darüber in weißer arabischer Schrift das Glaubensbekenntnis des Islams: „Es gibt keinen Gott außer Gott“. Es ist die Fahne, die auch der selbsternannte Islamische Staat (IS) zu seinem Symbol erkoren hat.

Lührig ist Polizeipräsident in Göttingen. Die Fahne entdeckten seine Ermittler in den Morgenstunden in einer Wohnung in der niedersächsischen Stadt. Doch die Spezialkräfte der Polizei fanden nicht nur die Flaggen. Sondern auch Waffen. Und scharfe Munition. „Die Gefahrenlage war eindeutig“, sagt Lührig. Für die Sicherheitsleute war klar: Ein Anschlag in Deutschland könnte unmittelbar bevorgestanden haben. „Wir haben in den letzten Tagen Vorbereitungshandlungen erkannt“, sagt Lührig. Deshalb schlug die Polizei jetzt zu.

Die Nachbarn hörten Schreie

Am Donnerstag, fünf Uhr in der Früh, stürmten bewaffnete Einheiten insgesamt zwölf Gebäude, elf in der Universitätsstadt Göttingen, eines in Kassel. Das „Spezialeinsatzkommando“ (SEK) war angerückt. Schwer bewaffnete Polizisten, trainiert für Festnahmen, bei denen die Verdächtigen möglicherweise losfeuern. Erst riefen die Beamten „Polizei!“, dann brachen sie die Eingangstüren auf. Nachbarn berichteten Reportern später von Krach und Schreien.

Waffen bei Razzia gegen Salafisten beschlagnahmt

weitere Videos

    Das Treppenhaus sei voller Polizei gewesen. Dann ging alles ganz schnell – zum Schutz für die Polizisten, aber auch damit die Festgenommenen keine Zeit haben, sich möglicherweise selbst zu verletzen oder zu töten.

    450 Beamte waren im Einsatz

    Eine Woche hatten die Behörden den Einsatz im Morgengrauen vorbereitet, die Spezialeinheiten zusammengetrommelt, den Zugriff geplant. 450 Beamte waren an den Durchsuchungen beteiligt. Im Morgengrauen führten Polizisten die beiden Männer ab, die seit Monaten im Visier der Sicherheitsbehörden gewesen sind: ein 27 Jahre alter Algerier und ein 23 Jahre alter Nigerianer. Beide sind in Deutschland geboren, hatten aber nur ihre ausländische Staatsbürgerschaft.

    Sie lebten in ihren Wohnungen in Göttingen gemeinsam mit ihren Familien, beide hatten sich der dortigen salafistischen Szene angeschlossen, sind den Polizisten schon länger als radikal und gewaltbereit bekannt. Die Männer sind zwei der derzeit etwa 550 „Gefährder“ – Islamisten, denen die Sicherheitsbehörden eine schwere Straftat wie Mord oder einen Anschlag zutrauen. Auch der Berlin-Attentäter Anis Amri führte die Polizei als „Gefährder“.

    Jede Woche eine Festnahme

    Der Göttinger Polizeipräsident Uwe Lührig.
    Der Göttinger Polizeipräsident Uwe Lührig. © dpa | Swen Pförtner

    „Razzia gegen Terrorverdächtige“ – fast im Wochentakt taucht diese Meldung derzeit auf. Erst vor gut einer Woche stürmten mehr als 1000 Polizisten Wohnungen, Büros und eine Moschee in Hessen, noch am selben Tag führten Beamte Razzien in Berlin durch. In beiden Bundesländern kam es zu Festnahmen. An diesem Mittwoch durchsuchten Ermittler Wohnungen von Anhängern des Vereins „Medizin mit Herz“ bei Bonn, die im Schatten einer Hilfsgruppe für Syrien dortige Extremisten unterstützt haben sollen.

    Immer muss die Polizei abwägen: Wie konkret ist der Terrorverdacht? Ab wann muss der Staat zugreifen, um einen Anschlag zu verhindern – bevor die Täter losschlagen? Wer derzeit mit Ermittlern im Staatsschutz spricht, hört viel über diese tägliche Gratwanderung. „Man liest am Morgen die Meldung über einen Terroranschlag oder einen Terrorverdächtigen, und man denkt dann nur: Hoffentlich ist es nicht einer von meinen Gefährdern“, sagt ein Beamter im Gespräch mit dieser Redaktion. Und seit Amri sind die Polizisten noch nervöser.

    Niemand will falsch liegen, niemand will sich zu spätes Handeln vorwerfen lassen. Im Gegenteil: Behördenleiter und Innenminister wollen mit den Razzien Entschlossenheit demonstrieren. Es bleibt das Risiko, dass Polizisten zu früh losschlagen – und ihre Beweise nicht ausreichen für eine Haft. Der Rechtsstaat testet im Kampf gegen den Terror seine Grenzen.

    Die Polizei bleibt vage

    Die Terrorpläne der beiden nun in Gewahrsam genommenen Männer aus Göttingen waren laut Ermittler so weit, dass keine Zeit zum Abwarten mehr gewesen sei. „Sie hätten sehr kurzzeitig und jederzeit einen Anschlag planen können“, sagt der Göttinger Einsatzleiter Bernd Wiesendorf. Was genau, sagt er nicht. Wieviel die Polizisten über konkrete Anschlagspläne des Duos wissen, ist unklar.

    Bisher ist auch nicht bekannt, dass die Männer mit Kämpfern des IS in Syrien oder Irak in Kontakt gestanden hatten. Die Polizei bleibt vage. Es ging um „Anschläge, wie es sie in den letzten Monaten in Deutschland gegeben hat“, sagt Lührig nur. Wollten die Männer mit den Waffen einen Lastwagen-Fahrer überwältigen und losschlagen, wie Anis Amri in Berlin? Was die Polizei sagt: Ihre Pläne haben sich nicht auf Göttingen begrenzt.

    Verdächtige seit langem im Visier

    Nach Informationen dieser Redaktion hatten niedersächsischen Ermittler gemeinsam mit dem Landeskriminalamt und dem Verfassungsschutz die beiden Extremisten schon seit Monaten im Visier – und hörten ihre Gespräche ab. Am 11. März 2016 waren Spezialkräfte schon einmal ausgerückt, nahmen den 27 Jahre alten Algerier und einen Deutschen in einer Wohnung im Stadtteil Geismar in Gewahrsam.

    Der damals 20 Jahre alte Deutsche war ebenfalls stadtbekannter Salafist. Der Grund für die Hausdurchsuchung: Die Polizisten vermuteten illegale Waffen bei den beiden. Die Beamten beschlagnahmten Datenträger und Computer, in einem Auto an der Wohnung fanden die Ermittler eine Gaspistole und einen Schlagstock.

    680 Salafisten allein in Niedersachsen

    Ausführlich sollen Polizisten die beiden Männer vernommen haben. „Gefährderansprache“ nennen die Ermittler diese Gespräche. Die Polizei will Radikalen so klarmachen, dass sie auf dem Schirm der Sicherheitsbehörden sind. Sie wollen mit diesen Ansprachen Druck ausüben, wie ein Staatsschützer erzählt. Und so ein Umdenken erwirken.

    Beweise hatten die Ermittler damals gegen den Algerier und den Deutschen nicht in der Hand. Sie ließen die beiden Männer wieder frei. Im Blick der Sicherheitsbehörden blieben sie dennoch.

    An die 10.000 Salafisten in Deutschland

    680 Salafisten zählt der Verfassungsschutz in Niedersachsen derzeit – Tendenz steigend. 2014 waren es noch 400. Fast 10.000 sind es mittlerweile bundesweit. Das Gros der Islamisten verfolge politische Ziele, die sich gegen die Demokratie richten. Gewaltbereit sei ein kleinerer Teil. „Die Übergänge zum dschihadistischen Salafismus sind jedoch fließend“, sagt Frank Rasche vom Landesamt in Niedersachsen dieser Redaktion.

    Nina Käsehage von der Universität in Göttingen forscht seit Jahren zur salafistischen Szene in Deutschland. Sie sagt zu den Akteuren: „Die dschihadistische Szene ist sehr mobil, die Gruppen setzen sich aus alt eingesessenen Dschihadisten und jungen gewaltbereiten Menschen zusammen.“ In Göttingen hätten Salafisten versucht, Studenten anzusprechen und für ihre Ziele zu gewinnen. „Auch in Moscheen der Stadt wollten sie Fuß fassen. Die Vereine haben sich jedoch klar von den Radikalen distanziert.“

    Hochburgen in Hessen, Berlin und NRW

    Immer mehr – und immer jünger: Diesen Trend stellen die Sicherheitsleute und Experten wie Käsehage bei der islamistischen Szene in ganz Deutschland fest. Städte wie Offenbar und Frankfurt in Hessen gelten als Hochburgen, Berlin und Nordrhein-Westfalen. Aber auch Niedersachsen. 77 sind allein aus diesem Bundesland in Richtung Dschihad nach Syrien ausgereist.

    In Braunschweig und Hildesheim hatten sich um radikale Prediger und ihre Moscheevereine Zellen des IS formiert. In Hannover stach die 16 Jahre junge Safia S. einem Polizisten in den Hals, im November 2015 sagten die Behörden ein Fußball-Länderspiel ab: Terrorverdacht. In Braunschweig musste der Karnevalsumzug ausfallen: Terrorverdacht. Und jetzt die Razzia Göttingen.

    Salafisten-Szene hat sich neu formiert

    Dort ist laut Verfassungsschutz in den vergangenen Jahren eine „junge salafistische Szene“ entstanden, mit ein paar Dutzend Anhängern. Viele von ihnen kommen aus dem Dunstkreis des radikalen Predigers Metin Kaplan, der sich selbst „Kalif von Köln“ nannte und dessen Organisation „Kalifatstaat“ der Innenminister 2001 verbot. Kaplan sitzt mittlerweile in der Türkei in Haft.

    Die Szene hat sich neu formiert. Und sie ist vernetzt. Viel ist bisher nicht bekannt über die Radikalisierung des Algeriers und des Nigerianers. Der eine arbeitete zuletzt in einem Callcenter, der andere machte eine Ausbildung zum Schneider. Nur: Auch sie waren mobil, trafen andere Radikale in Hildesheim oder Kassel. Jetzt sitzen sie in Gewahrsam. Niedersachsen will sie nach Algerien und Nigeria abschieben.