Clausnitz. Anfang 2016 wurde das sächsische Dorf zum Synonym für Fremdenfeindlichkeit. Alle wollen das Image loswerden – sogar die Flüchtlinge.

Alice Neuber geht bei gutem Wetter täglich durch Clausnitz, ein lang gestreckter Ort mit einer langen Dorfstraße, parallel zum Dorfbach. Alice läuft vorbei an Plastikschaukeln, Vogelhäuschen, Dächern mit Solaranlagen. Vom Oberdorf, wo das Flüchtlingsheim steht, läuft sie manchmal bis zum Ortseingang im Unterdorf, wo das Schild steht: „Clausnitz – ein Ort mit Geschichte“.

Sie muss bei ihrem Spaziergang aufpassen, es gibt fast nirgends einen Fußweg, die Autos fahren langsamer, geben Lichthupe, manche winken durch die Windschutzscheibe. Alice Neuber kennt alle 800 Einwohner von Clausnitz, zumindest vom Sehen. Sie wurde hier geboren, war 17 Jahre alt bei Kriegsende, 33 Jahre bei Mauerbau, und als 2015 die Flüchtlinge nach Deutschland kamen und viele im Ort wütend wurden, da sagte die 88-Jährige: „So ein paar Konfibschen gibt es eben überall.“

Harmlose Beschreibungen für einen Mob

„Konfibschen“ oder „Gonfiebschn“, das Wort lässt sich nur ungefähr schreiben. Es bezeichnet im sächsischen Dialekt die schwarzen Schafe, die es in jeder Gemeinde gibt, die einem auch peinlich sind. Das Wort klingt harmlos für den Mob von 100 Menschen, die in Clausnitz laut Polizeibericht am 18. Februar 2016 einen Bus voller Flüchtlinge mit Gewalt daran hindern wollten, zu ihrer neuen Unterkunft zu gelangen.

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Es klingt harmlos für einen Polizisten, der damals einen Flüchtlingsjungen im Polizeigriff aus dem Bus zerrte, während die Rufe „Wir sind das Volk!“ lauter wurden. Der Polizist hatte die Nerven verloren, heißt es später, wollte so die Situation schnell beenden. Aber in jener Nacht machte es alles schlimmer: Im Bus weinten Menschen, die vor Krieg flüchteten, draußen riefen Sachsen „Verpisst euch!“ und „Ihr braucht nicht rumheulen!“.

„Das sind keine Menschen, die so etwas tun“

Die Szene ist heute noch so präsent, weil mehrere Menschen mit ihren Mobiltelefonen mitfilmten. Es ist der Beweis, wie es aussieht, wenn „die Stimmung kippt“, was so viele Experten längst erwarteten auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Ein Video aus der Nacht ist der erste Treffer bei der Google-Suche nach „Clausnitz“.

Es hat – man muss es so sagen – dessen Ruf zerstört. Zeitungen titeln damals „Grölender Mob schikaniert Flüchtlinge“ und „Tage der Schande“. Es tauchte auch ein zweites Video auf, das verängstigte Kinder zeigte.

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Denn noch in der gleichen Woche brennt im sächsischen Bautzen ein Haus, in das Flüchtlinge einziehen sollten, Anwohner klatschen Beifall. Ein Bundesland wird damals zum „Schandfleck“, Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich sagte über Bautzner und Clausnitzer: „Das sind keine Menschen, die so was tun.“

Ein Dorf zwischen Schweigen und Mitteilungsbedürfnis

Ein Jahr später will Clausnitz’ Bürgermeister Michael Funke nicht mehr über diesen Abend sprechen. Er bitte um Verständnis, er habe genug gesagt. Das wundert einige Clausnitzer, denn im Dorf redet man auch im Februar 2017 noch häufig über den Vorfall. Im unteren Teil des Dorfes sagt eine Frau: „Ich war zu Hause, habe aber nichts gehört, das Video kenne ich, da ist keiner meiner Bekannten dabei.“

Beim Blumenladen im Dorfzen­trum erzählt eine Frau, die direkt neben dem Flüchtlingsheim wohnt: „Ich habe nichts gehört und sehr gut geschlafen. Erst am nächsten Morgen rief ein Cousin, der in Thailand lebt, an und fragte, was passiert sei.“ Und eine Verkäuferin in der Fleischerei: „Ich habe Geburtstag am 18. Februar, den wollte ich in Ruhe feiern, damit ist es ja erst einmal vorbei.“

Flüchtling will nun selbst Polizist werden

Wirklich jeder von ihnen sagt: „Das wurde doch von den Medien aufgebauscht.“ Die Einwohner haben sich eben auch überfallen gefühlt von dem weltweiten Interesse an ein paar „Konfibschen“. Selbst der heute 15 Jahre alte Flüchtling Luai Khatum sagt, er denke selten an jene Nacht, als ihn der Polizist aus dem Bus zerrte. Er spricht fließend Deutsch und will selbst Polizist werden.

Der Flüchtlingsjunge Luai kommt aus dem Norden des Libanons.
Der Flüchtlingsjunge Luai kommt aus dem Norden des Libanons. © dpa | Sebastian Kahnert

Auf seinem Fensterbrett steht ein Mini-Polizeiauto. Über die Demonstranten von damals spricht er wie ein richtiger Clausnitzer: „Das waren ja keine Leute von hier.“ Dann fügt er an: „Nicht alle.“ Dass einige vor dem Bus Kopf-ab-Zeichen gemacht haben und sein Bruder geweint hat, das will er nicht mehr besprechen. Er sagt, er habe jetzt viele deutsche Freunde.

Flüchtlinge berichten auch über Gastfreundlichkeit

Andere Flüchtlinge erzählen, dass Clausnitzer Spielzeug gespendet haben, Kleidung, sogar eine Couch und einen Flachbildfernseher. Viele der männlichen Flüchtlinge spielen Fußball im Ortsverein. Sie haben sich eingelebt.

Doch nicht alle sind mit diesem Bild einverstanden. Im Schatten der Kirche im Dorfkern steht ein Mann, der wie alle Anwohner außer Alice Neuber seinen Namen „lieber nicht“ nennt. Er fand den ARD-Beitrag, der kürzlich über Clausnitz ausgestrahlt wurde, nicht ausgewogen. „Warum lese ich in keinem Bericht, dass es auch Probleme gibt mit Flüchtlingen?“ Er meint, dass im Sommer 2016 eine „derer“ Familien hier ein Schaf geschächtet habe. „Das Blut floss in den Abfluss, und das Klärwerk fand das gar nicht komisch.“ Außerdem habe im Mai plötzlich Geld in der Gemeinschaftskasse vom Fußballverein gefehlt. Beweise gebe es nicht, aber er habe gehört im Dorf, das waren „die“. Er will im September die AfD wählen. „Damit sich etwas ändert.“

Sind Flüchtlinge krimineller als Deutsche?

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    Anwohnerin hat schon Schlimmeres erlebt

    Die Geschichte vom blutenden Schaf und der leeren Fußballvereinskasse wird in Clausnitz oft erzählt, meist mit dem Unterton: „Die werden sich nie anpassen“. Wenn die 88 Jahre alte Alice Neuber davon erzählt, klingt es versöhnlicher, so als ob es auch unter den Flüchtlingen ein paar „Konfibschen“ geben dürfe. „Ich verstehe nicht“, sagt sie, „warum sich hier einige bedroht fühlen.“ Sie habe Schlimmeres überlebt. Zu ihr waren „die Jungs“ immer freundlich. „Gegrüßt haben sie“, sagt sie, „wie es sich gehört.“

    Am Ende eines anstrengenden Tages sitzt Sedegh Ranjbar auf seiner roten Couch in der Cämmersdorfer Straße, Luais Familie wohnt im Nachbarhaus. Der 25 Jahre alte Iraner ist morgens mit seiner Frau Mahsa und dem einjährigen Babak um 7 Uhr zur Krippe gefahren. Die Eltern besuchen einen Sprachkurs in Freiberg, holen das Kind um 15 Uhr wieder ab.

    Schächten war laut Flüchtling ein Fehler

    Sedegh spricht gutes Deutsch, Stufe B2. Auch er hat den 18. Februar nicht vergessen. „Babak war zwei Monate alt, er hat viel geweint an dem Abend.“ Die Fahrt im „Reisegenuss“-Bus begann um 6 Uhr morgens in Chemnitz, der Abend war ein Riesenchaos, er habe nichts verstanden und nur Angst gehabt. Vier von den sieben Familien von damals wohnen noch hier: Sie kommen aus Afghanistan, dem Iran, Syrien und dem Libanon.

    Sedegh gibt zu, das Schächten sei ein Fehler gewesen. „Das war einer aus der Wohnung über uns“, sagt er. „Er hat nichts von dem Verbot gewusst.“ Und die Fußballkasse? Seine Frau und er schauen, als wollten sie sagen, diese Geschichte wieder. Er sagt: „Ich war an dem Tag der einzige von uns Flüchtlingen beim Fußball. Es fehlten dann am nächsten Tag 70 Euro. Ich habe das Geld nicht genommen. Für 70 Euro würde ich nicht meine Zukunft in Clausnitz aufs Spiel setzen.“ Er dachte, das Thema sei längst erledigt. „Ich spiele seit Monaten wieder Fußball.“ Er will doch nur keinen Ärger.