Erbil. Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ stemmt sich gegen die Niederlage im Nordirak. Die Kämpfer gehen mit Attentaten gegen Kurden vor.

Die Dschihadisten waren bei Tagesanbruch gekommen. Wie immer. Denn sie glauben, dass sie nahe beim Propheten sitzen werden, wenn sie im Morgengrauen sterben. Jetzt liegen die Trümmer ihrer Fahrzeuge und ihre Leichen im staubigen Ödland westlich von Sindschar. Die Region im Nordwesten des Iraks ist der Landstrich um die gleichnamige frühere Jesidenhochburg, die im August 2014 von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) überrannt wurde. Heute stapfen kurdische Peschmerga um die Militärwracks der Gotteskrieger herum, schießen Fotos.

Doch die Bilder täuschen. Der IS stemmt sich mit aller Macht gegen die drohende Niederlage in der nordirakischen Millionen-Metropole Mossul. Zwar sollen mehrere hundert IS-Kämpfer seit Beginn der Offensive der irakischen Armee und der kurdischen Peschmerga Anfang vergangener Woche getötet worden sein. Aber am Dienstag gab es erneut heftige Gefechte wenige Kilometer nördlich und östlich von Mossul.

UN beklagen Massaker an der Zivilbevölkerung

Bei Baschika, einer früher von Christen und Jesiden bewohnten Stadt, stoßen kurdische Kämpfer auf erbitterten Widerstand der Islamisten. „Sie schicken Wellen von Selbstmordattentätern und haben überall Scharfschützen positioniert. Aber sie stehen massiv unter Druck“, berichtet ein kurdischer General. Die in der Nähe von Baschika stationierte türkische Armee unterstützt die Kurden mit Panzern. Die irakische Armee rückt von der früheren Christenhochburg Bartella im Osten Mossuls weiter vor. Hunderte Kilometer weiter südlich versuchen Armee-Einheiten, die Wüstenstadt Rutba zurückzuerobern, die der IS vor wenigen Tagen erneut eingenommen hatte.

Aus den umkämpften Gebieten sollen seit Beginn der Offensive mehr als 7000 Menschen in Terrain geflohen sein, das von irakischen Kräften kontrolliert wird. In die Kurdengebiete haben sich zudem Tausende Menschen in Erwartung bevorstehender Kämpfe aus der Umgebung der Stadt Hawidscha gerettet. Hawdischa liegt 150 Kilometer südlich von Mossul und ist neben der Großstadt die letzte verbliebene Hochburg des IS im Irak.

In den vergangenen Tagen hat der IS immer wieder Öl und Reifen angezündet, um die Luftangriffe der US-geführten Koalition zu erschweren. Auch eine Schwefelfabrik ging in Flammen auf. Nach Angaben der Vereinten Nationen verübte der IS beim Kampf um Mossul Massaker an der Zivilbevölkerung. Rund 70 Leichen von Zivilisten mit Schusswunden seien am 20. Oktober in dem Dorf Tulul Naser unweit von Mossul von irakischen Sicherheitskräften entdeckt worden, teilte die UN-Menschenrechtskommission am Dienstag in Genf mit.

Irakische Polizisten fallen dem IS zum Opfer

Am Sonntag seien zudem nahe Mossul von IS-Leuten 50 ehemalige irakische Polizisten umgebracht worden, die sich in Gefangenschaft der Terrormiliz befanden. Ein Ziel des IS bestehe wahrscheinlich in der Einschüchterung der Bevölkerung, die sich in dem von den Terroristen kontrollierten Gebiet befindet. Sie sollte wohl davon abgehalten werden, zur Regierungsseite überzulaufen.

In Mossul selbst soll der IS 1400 Mitglieder einer Eliteeinheit am östlichen Ufer des Tigris stationiert haben. Es heißt, dass die Kämpfer Straßen verminen, Blockaden errichten und fanatisierte Kinder und Jugendliche mit Sprengstoffgürteln ausrüsten. Dass der IS längst nicht besiegt ist, hat der gut koordinierte und bestens vorbereitete Angriff auf die Erdölstadt Kirkuk, 170 Kilometer südlich von Mossul, am vergangenen Freitag gezeigt.

Viele Dörfern sind nur noch Trümmerwüsten

120 IS-Soldaten waren teilweise schon vor Wochen in die Stadt eingesickert, hatten sich unter Flüchtlinge gemischt. Sie lieferten sich in der Stadt stundenlange Gefechte mit kurdischen Sicherheitskräften und zündeten Autobomben. Am Dienstag nahmen die Kurden den Mann fest, der hinter dieser Attacke stecken soll. Nazhar Mahmoud Abdul Ghani ist ein Neffe des 2003 gestürzten irakischen Machthabers Saddam Hussein.

Auch in der Region Sindschar sind die Dschihadisten noch präsent. Im November vergangenen Jahres war der IS noch aus der gleichnamigen Stadt vertrieben worden. Heute ist der Ort nur noch eine Trümmerwüste, so wie fast alle Dörfer in der Umgebung. Noch 40 Prozent der unwirtlichen Region nahe der syrischen Grenze werden vom IS gehalten. In einem der wenigen intakten Gebäude in Sindschar ist das Hauptquartier der in der Region stationierten Peschmerga. Viele von ihnen sind Jesiden, die wegen ihres Glaubens von den Dschihadisten als Teufelsanbeter bezeichnet und besonders brutal verfolgt werden.

Die IS-Kämpfer kamen mit gepanzerten Baggern

Im Hof stehen einige Soldaten, die gerade von der Front zurückgekommen sind. „Das war der stärkste Angriff seit März“, erzählt Yassir Shesho im Büro seines Vaters. Dieser ist der Kommandeur der 8500 Peschmerga, die an der Sindschar-Front stehen. Yassir ist 28, Jeside und Deutscher, er kommt aus Bad Oeynhausen. Sein Vater, Kassim Shesho, trägt einen dicken, schwarzen Schnauzer, hat eine rauchige Stimme.

Kassim Shesho hat im Sommer 2014 Deutschland verlassen, um seine alte Heimat gegen den IS zu verteidigen. Er sitzt rauchend hinter seinem Schreibtisch und hört seinem Sohn zu. Vor drei Tagen schon hatten sie einen Tipp über den bevorstehenden Angriff bekommen, „wir haben Informanten auf der anderen Seite“, sagt Yassir. Trotzdem war der Angriff viel heftiger als erwartet. Der IS schickte am frühen Morgen 200 Kämpfer in amerikanischen Humvees, schweren Geländewagen.

Weitere Anschläge in nächsten Wochen vermutet

Den Angriff führten zwei gepanzerte Bagger an, mit denen die Dschihadisten versuchten, den Erdwall zu durchbrechen, den die Kurden aufgebaut hatten. Auf die Verteidigungslinie rollte auch eine fahrbare Brücke zu, mit der die IS-Kämpfer den Graben vor dem Wall überwinden wollten. Sie schafften es fast. „Wir haben mit allem geschossen, was wir hatten, gegen die Bagger hatte sogar die Milanrakete keine Chance“, erzählt ein Kommandant.

Erst die Luftschläge der US-geführten Koalition beendeten den Angriff. Mehr als 40 Extremisten starben, fünf Peschmerga wurden verwundet. Stunden später besichtigen die Kurdenkämpfer die Trümmer der Fahrzeuge. Attacken wie die heutige werden in den nächsten Wochen öfter vorkommen, glauben die Männer im Hauptquartier.