Peine. Das Peiner Kreismuseum lädt zu einem Hörspaziergang durch die Peiner Südstadt ein. Diese Geschichten werden erzählt.

Einfach mal in ein Geschäft an der Braunschweiger Straße hineingehen, an einer Wohnungstür klingeln, mit den Menschen ins Gespräch kommen, hören, was sie zu erzählen haben. Die Künstlergruppe „Syndikat Gefährliche Liebschaften“ hat das in einem Projekt mit dem Peiner Kreismuseum getan. Aus den Interviews mit türkischen Einwanderern, die als „Gastarbeiter“ ab den 1960er Jahren nach Peine kamen, aus Gesprächen mit deren Kindern und Enkelkindern ist ein berührender „Audiowalk“ – so das moderne Wort für Hörspaziergang – entstanden.

Zur Premiere hatte das Kreismuseum zu einem geführten Hörspaziergang eingeladen. Doch ab sofort kann jeder, der möchte, sich auf den Weg durch die Südstadt machen: Der Text zum Spaziergang ist kostenfrei über eine App oder im Internetabrufbar.

Tour durch die „Einwanderungsstadt Peine“

Der Hörspaziergang titelt „Wolken über Gurbet – Einwanderungsgeschichten im Schatten des Stahlwerks“. „Gurbet ist türkisch und bedeutet viel mehr als nur Fremde oder Heimweh“, erklärte Felix Worpenberg vom „Syndikat“ zu Beginn der Führung. Was alles „viel mehr“ ist, das wird in dem eineinhalbstündigen Spaziergang eindrucksvoll deutlich. Es geht um die Gefühle des Heimwehs und in der Fremde seins. Um das Gefühl, unter einem Himmel zu leben, der anders ist, als der, den man zuvor kannte.

Die Tour durch die „Einwanderungsstadt Peine“ beginnt am Bahnhof. Denn dort ist der Großteil der Gastarbeiter angekommen, auf der Suche nach Arbeit und nach einer langen, meist mehrtägigen Reise mit Bus und Zug aus der Türkei über Bulgarien, Serbien, Ungarn, Österreich nach München. In München gab es eine Verteilzentrale, in der Firmen sich melden konnten, die Arbeitskräfte suchten.

Die Braunschweiger Straße einst und jetzt

Interviewt wurden unter anderen Osman Benzer, Friedrich Deichmann, Aysel Deniz, Zeynep Dogan, Ekrem Kocak, Esin Savas, Gönül Savas, Vecihi Savas, Ali Ihsan Yildirim und Veli Yildirim.

Musikerin Esin Savas hat eigens für den Hörspaziergang Musik geschrieben: Musik ist für sie die Sprache, über die man sich verbinden kann, Ernährung für die Seele. Besonders berührend: ein altes, traditionelles Lied, Erinnerung an ihren Opa in der Türkei. „Das Lied ist mein Opa.“

Hier geht die Gruppe in Richtung des alten Spielplatzes. Erinnerungen tauchen auf, unter anderem an die Bäckerei Kloster.
Hier geht die Gruppe in Richtung des alten Spielplatzes. Erinnerungen tauchen auf, unter anderem an die Bäckerei Kloster. © FMN | Bettina Stenftenagel

Sie alle erzählen ihre Geschichte – aber auch die Geschichte der Braunschweiger Straße ist Thema: Einst war die Braunschweiger Straße ein lebendiger Teil der Peiner Innenstadt mit vielen Geschäften.

Das Bild veränderte sich Lauf der Jahre gravierend. Aysel Deniz, Veli Yildirim, Osman Benzer und Ali-Ishan Yildirim zeichnen den Wandel nach: Die Stadt baute die Nord-Süd-Brücke, danach fuhren die Menschen in ihren Autos an der Braunschweiger Straße vorbei. Geschäfte machten nach und nach zu, Immobilienpreise sanken und wurden erschwinglich für Leute, die sich bis dahin keinen Wohnraum leisten konnten. Sie zogen aus den Baracken des Stahldorfs an die Braunschweiger Straße. Heute, so erzählt eine der Interviewten, sei die Peiner Südstadt ein diverser Stadtteil, „laut, bunt, immer ist was los, irgendwo brennt immer Licht, auch nachts“.

„Wem soll ich von meinem Kummer erzählen, ihr Wolken“

Eine der Stationen des Hörspaziergangs ist oben auf der Nord-Süd-Brücke, mit Blick auf das Stahlwerk und den Himmel darüber. Früher regnete es aus den Schloten Staub, erinnern sich die früheren Arbeiter, und der Himmel war wolkig – ganz anders als der Himmel in der Heimat. Ein Lied erklingt: „Wem soll ich von meinem Kummer erzählen, ihr Wolken“, so eine Textzeile. Und weiter: „Die Menschen, die wir für Freunde hielten, haben uns zutiefst getroffen, und dann noch das Gefühl von Heimweh, das am tiefsten sitzt. Sagt mir, gibt es Neuigkeiten aus der Heimat? Oder sind diese Regentropfen in Wirklichkeit die Tränen meiner Heimat?“

Weiter führt der Weg an den kleinen Spielplatz, den es schon sehr lange gibt. Gegenüber war die Bäckerei Klose. Kindheitserinnerungen werden wach, an Frau Klose und die Butterkuchen-Reste: „Sie hatte eine Brille, graue Haare und sie sah immer so aus, als ob sie, wenn sie rauskam, zum Schimpfen kommen wollte, aber sie hatte immer Kuchen dabei.“ Den hat sie für die Kinder auf die großen Tische gestellt, „und wir haben ihn verzehrt – genüsslich“.

Felix Worpenberg (links) vom
Felix Worpenberg (links) vom "Syndikat" und Osman Benzer in der Braunschweiger Straße. © FMN | Bettina Stenftenagel

Wann wird die fremde Heimat und die vorherige Heimat fremd?

Und wieder ist ein Lied zu hören. Diesmal handelt es von den Kindern und Jugendlichem, die in Deutschland geboren sind, Deutsch sprechen, deutsch träumen, Deutsch sprechen und trotzdem auffallen und nicht dazugehören. Veli Yildirim geht der Frage nach, wann die fremde Heimat wird und wann die vorherige Heimat fremd. Er spricht davon, dass es einen Punkt gibt, an dem sich das verändert: „Wenn Du für Menschen, die in der Türkei leben, deutsch bist. Aber bist Du das auch für Menschen, die in Deutschland leben?“

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