Kairo. Forscher wollen die Landkarte des alten Ägypten zeichnen und ein Rätsel der Ägyptologie lösen. Die Lösung suchen sie im Schlamm.

Auch im Winter ist die Sonne Ägyptens so stark, dass die Arbeiter und Archäologen ins Schwitzen kommen. Manche haben auch eine anstrengende Aufgabe: Sie bohren einen bis zu 15 Meter langen Stab in den Boden. Um sie herum leuchtet die Landschaft grün. Ein Hirte treibt seine Schafherde vorbei, und zwei Jungen reiten auf Eseln über einen Weg zwischen den Feldern. Die Forschergruppe steht inmitten von Äckern im Norden des Gouvernements Beni Suef. Die landwirtschaftlich genutzte Gegend südlich von Kairo ist Teil des fruchtbaren Streifens, der sich entlang des Nils durch Ägypten zieht.

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Ägypten ist das „Geschenk des Nils“, so soll der griechische Geograf Herodot das sonst so trockene Land bezeichnet haben, das nur entlang der Ufer des mächtigen Stroms fruchtbar und grün ist. Die Bedeutung des Nils für Ägypten, den Sudan und jedes Land – vom Ursprung des gewaltigen Flusses am Victoriasee bis zur Mündung ins Mittelmeer – ist existenziell.

In Ägypten nahe der Meidum-Pyramide sucht ein Team aus Forschenden nach Spuren versiegter Flussarme des Nils.
In Ägypten nahe der Meidum-Pyramide sucht ein Team aus Forschenden nach Spuren versiegter Flussarme des Nils. © Jana Treffler | Jana Treffler

Nil war der „Superhighway“ im alten Ägypten

Die Hochkulturen der Nubier und Ägypter mit ihren außergewöhnlichen Bauwerken sind ohne den Nil nicht zu denken. „Sie brauchten den Nil als ihren Superhighway“, sagt die Leiterin des Nil-Forschungsprojekts, Eman Ghoneim. „Das war eine günstige und einfache Art des Transports.“ Dank Wind und Strömung konnte flussauf- und -abwärts gefahren werden.

Und doch gibt es Lücken – in den Theorien und in der Geografie. Der Nil fließt viel zu weit weg von den Pyramiden von Gizeh, als dass die alten Ägypter die riesigen Kalksteinblöcke darauf bis zur Baustelle hätten transportieren können. Viele der früheren Flussarme des Nils sind versiegt. Wo sie tatsächlich verliefen? Unbekannt.

Gelangten riesige Steinblöcke auf dem Nil zur zweitältesten Pyramide?

Eine der ältesten Pyramiden Ägyptens, die stufenförmige Pyramide von Meidum steht heute ebenfalls zehn Kilometer vom Flusslauf entfernt. In ihrer Umgebung sucht das Forscherteam um Ghoneim, das von der US-amerikanischen National Science Foudation gefördert wird, nicht etwa nach alten Grabschätzen oder Mumien, sondern: nach Schlamm. Genauer gesagt: nach Nil-Sedimenten. Diese könnten verraten, wo genau der Nil früher floss – und erklären, wie das Baumaterial zur Meidum-Pyramide gelangte.

„Wir müssen die Karte Ägyptens neu zeichnen“, sagt die Geomorphologin Ghoneim. Hinter ihr stehen die Mitarbeiter des Projekts rund um ein kleines Loch im matschigen Boden. „Das ist das erste Loch in dieser Grabungssaison“, erklärt Ghoneim. Der Aufbau sieht ziemlich simpel aus. Ein langer Metallstab, der am unteren Ende in eine Schlaufe übergeht, in der etwas Erde stecken bleiben kann. Dazu ein Messer, um den Matsch herauszupulen und ein Eimer. Viel mehr braucht es bei dieser Grabung nicht.

Die Arbeit der Forschenden ist anstrengend. Alle 15 bis 20 Zentimeter nehmen sie eine Bodenprobe.
Die Arbeit der Forschenden ist anstrengend. Alle 15 bis 20 Zentimeter nehmen sie eine Bodenprobe. © Ancient Nile Project | Ancient Nile Project

Nil-Rätsel: Hightech-Daten und simples Bohren liefern Forschern das ganze Bild

Mit voller Kraft drehen die Mitarbeiter den Stab in den Boden. Dabei messen sie genau: Alle 15 bis 20 Zentimeter nehmen sie eine Probe. Timothy Ralph notiert alles in ein Notizbuch. Kam Sediment heraus? Wie grob- oder feinkörnig ist es? Der australische Geomorphologe ist darauf spezialisiert, alte Flussläufe aufzuspüren. Was sie bisher gefunden haben? „Viel Schlamm“, sagt Ralph und lacht. „In der letzten Grabungssaison war aber auch ein bisschen Sand dabei.“

Um zu wissen, wo sie überhaupt nach dem alten Nil-Sand buddeln sollen, nutzen die Forscher Radartechnologie, Elektromagnetresonanz und Daten von Satelliten, sogenannte Fernerkundung. Für diesen Part ist Ghoneim zuständig: „Das Bild fügt sich zusammen, wenn wir die Fernerkundungsdaten mit dem topografischen Profil und dem Sediment-Profil kombinieren.“ Den Vorgang wiederholen sie mehrmals und an verschiedenen Stellen.

Wie und wo lebten eigentlich 99 Prozent der alten Ägypter?

Inzwischen hat das Forschungsteam eine erste Bodenprobe nach oben befördert. Sie zerreiben die nasse Erde in ihren Händen. Kein Sand dabei, also wieder von vorne. Der Archäologin Suzanne Onstine laufen ein paar Schweißperlen über die Stirn. Seit über 25 Jahren forscht die US-Amerikanerin in Ägypten. Dieses Projekt liegt ihr besonders am Herzen, denn es könnte Erkenntnisse über die „normalen“ Menschen im alten Ägypten liefern. „Sie waren Teil der Landschaft, sie formten die Landschaft – und die Landschaft formte sie“, sagt Onstine.

Das langfristige Ziel des Projekts: Siedlungen der gewöhnlichen Bevölkerung finden. Siedlungen lagen immer nah am Nil. Die jährliche Nil-Flut im Juni war zerstörerisch und lebenswichtig zugleich. Mit ihr wurde fruchtbarer Nil-Schlamm über die Ackerflächen gespült. Lange Zeit interessierte sich die Ägyptologie jedoch nur für die Hinterlassenschaften der Pharaonen. „Das waren vielleicht ein Prozent der Bevölkerung, die zur Elite derer gehörten, die als Wesire oder am Hof arbeiteten“, so Onstine. Von den Bauern sind keine schriftlichen Zeugnisse oder monumentale Grabstätten überliefert.

Hapi, der Nil-Gott – ein bisschen dick und sehr großzügig

Wie wichtig der Nil damals für die Menschen war, spiegelt sich in den Mythen wider. Der Gott Hapi steht im altägyptischen Pantheon für den Nil. Er ist korpulent und androgyn, mit ausgeprägtem Busen, ein Zeichen der Fruchtbarkeit. „Anders als die anderen Götter war Hapi ein erfahrbarer, greifbarer Gott. Als Verkörperung des Nils kümmert er sich um die Menschen“, erklärt Onstine. Obwohl Hapi sehr im alltäglichen Leben der Menschen präsent war, gibt es keinen Tempel, der nur ihm geweiht ist. Jedoch finden sich etwa in Abu Simbel und Luxor Reliefs von ihm an Tempeln.

Beim Bohren nach alten Nil-Sedimenten tauchen auch immer wieder antike Objekte wie Keramikstückchen auf. Onstines Aufgabe als Archäologin ist es, diese einzuordnen. „Leider ist es so, dass in der profanen Töpferei über Jahrhunderte hinweg die gleiche Technik angewandt wurde“, erklärt die Archäologin. Daher sei es schwer, die Fundstücke zu datieren.

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In dieser Grabungssaison wird das Team fündig. In den tieferen Bodenschichten entdecken sie Keramik. „Kulturelles Material sagt uns, dass wir ziemlich sicher auf das ehemalige Flussufer gestoßen sind“, sagt Onstine.

Der Aufwand könnte sich lohnen: Gelingt es den Forschern tatsächlich, die Landkarte des alten Ägypten mit all seinen Flussarmen nachzuzeichnen, dann werden Archäologen viel zielgerichteter Orte für neue Ausgrabungen identifizieren können. Und: Das Rätsel, wie riesige Steinblöcke zur Meidum-Pyramide gelangten, könnte endgültig geklärt werden. Auch zu den Pyramiden von Gizeh, die heute absolut auf dem Trockenen stehen, floss zur Zeit des alten Ägypten wohl ein Arm des Nils.