Essen. Ein Apotheker aus Bottrop soll zehntausendfach Krebs-Medikamente gepanscht haben. Jetzt muss er sich vor einem Gericht verantworten.

Sie kommen mit weißen Rosen, manche haben Tränen in den Augen: Als in Essen am Montagmorgen der Prozess um gestreckte Krebsmedikamente beginnt, haben sich viele der Betroffenen und Angehörigen auf den Weg ins Gericht gemacht. „Wir möchten ein Zeichen setzen“, sagt eine von ihnen. „Ein Zeichen der Trauer.“ Und wohl auch der Wut.

Annelie Scholz ist aus Bottrop angereist. Die 66-Jährige hat ihre Tochter an die schreckliche Krankheit verloren. „Ich habe kein Vertrauen mehr“, sagt sie unter Tränen. Sie sieht, wie der Apotheker den Saal betritt. „Er wirkt eiskalt“, sagt sie.

Laut Anklage geht es um einen Millionenschaden

Angeklagt ist der 47-jährige Apotheker Peter S. aus Bottrop. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, zwischen 2012 und 2016 systematisch Krebsmedikamente unterdosiert, aber voll abgerechnet zu haben. Zuletzt soll er um die 1000 Infusionen im Monat hergestellt und dafür – etwa im Februar 2016 – mehr als 1,2 Millionen Euro abgerechnet haben.

Peter S. wirkt wie ein freundlicher Herr, als er neben seinen vier Verteidigern Platz nimmt. In seinem dunklen Sakko und dem schwarzen Rollkragenpullover könnte er glatt als fünfter Rechtsbeistand durchgehen. Aber dafür redet er zu wenig. Denn am ersten Tag kommt er zunächst nicht zu Wort. Anträge der Rechtsanwälte, vor allem aus Reihen der Opfer, sorgen dafür, dass zunächst Formalien abgearbeitet werden müssen.

Nur 27 Fälle gelten als versuchte Körperverletzung

Und die haben es in sich. Die Opferanwälte kritisieren die Anklage, dass sie bei den rund 60.000 gepanschten Medikamenten für rund 3000 Patienten nur von Arzneimittelfälschung und Abrechnungsbetrug zulasten der Krankenkasse ausgeht. Lediglich 27 Fälle, in denen fertig zubereitete Mixturen zum Teil ohne Wirkstoff sichergestellt wurden, gelten in der Anklage als versuchte Körperverletzung.

Diese Proben wurden am 29. November 2016 im Reinraum der Apotheke konfisziert. Sie tragen die eigenhändige Unterschrift des Apothekers. Viele der Patienten, die Medikamente aus der Alten Apotheke in Bottrop bekommen haben, sind mittlerweile verstorben.

Dass es sich nur um versuchte Körperverletzung handeln soll, verstehen die Menschen nicht. Im und auch vor dem Gericht reden sie von einem Tötungsdelikt. Der Anwalt Siegmund Benecken spricht sogar von einem „Massenmord“. Er und mehrere andere Anwälte beantragen im Auftrag der Opfer, das Verfahren an das auf Tötungsdelikte spezialisierte Schwurgericht abzugeben. Der Apotheker habe bei jeder Mixtur „billigend in Kauf genommen“, dass durch die fehlenden Wirkstoffe gegen den Krebs ein kranker Mensch sterben muss.

Für die Betroffenen ist es Mord

„Endlich ist es gesagt“, ruft Heike Benedetti (56) aus Bottrop vor dem Landgericht. Zwei Nebenklägerinnen, die ihre Mutter und ihren Ehemann verloren haben, ballen die Hand zur Siegerfaust. Benecken hat das Wort ausgesprochen, das in ihren Augen die einzig zutreffende Bewertung ist: Mord.

Die Wut unter den Betroffenen, die als Nebenklagevertreterinnen im Saal sitzen, ist unermesslich groß. „Ob der Mann die Kassen um 30, 40 oder 50 Millionen betrogen hat – wie schwer wiegt das angesichts der Zeit, die mein Mann nicht mehr hatte?“, fragt eine von ihnen.

Opferanwalt Benecken, der schon vor Prozessbeginn von „grenzenloser Menschenverachtung, eiskaltem Gewinnstreben und Habgier“ sprach, sagte, dass die Betroffenen daran interessiert seien zu erfahren, welches Schicksal der Einzelne genommen habe. „Und nicht, ob die Versicherung Schaden erlitten hat.“

Dem Angeklagten drohen zehn Jahre Haft

Cornelia Thiel, 59 Jahre, aus Marl will, dass der Angeklagte „nachempfinden kann, was er für ein Leid über krebskranke Menschen gebracht hat“. Ihr eigenes Leid sei die Ungewissheit. „Ich möchte wissen, ob er mir Lebensjahre geklaut hat.“

Keiner der womöglich um die tausend Betroffenen kann offenbar sagen, ob er Medikamente mit ausreichend Wirkstoff erhalten hat. „Wenn ich darüber nachdenke, wird mir ganz anders“, sagt Heike Benedetti. Ihr Kampfgeist ist jedoch ungebrochen. „Ich möchte leben“, sagt sie am Rande des Prozesses. „Es geht mir aber nicht aus dem Kopf, dass jemand auf Kosten von Patienten ein Luxusleben geführt hat.“

Sollte Peter S. schuldig gesprochen werden, drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft, heißt es. Außerdem strebt die Staatsanwaltschaft ein Berufsverbot an. „Er ist ungeeignet, den Beruf eines Apothekers zu bekleiden“, heißt es in der über 800 Seiten langen Anklageschrift.