Oslo. Nirgends auf der Welt dauern die Abifeiern so lange. Der Regierung gefällt das nicht.

In der Pisa-Studie belegten Norwegens Schüler Platz 24. In Sachen Party aber erhalten sie Bestnoten. Die Abiturfeiern in dem Königreich sind so exzessiv wie wohl nirgendwo.

„Russe“ nennen sich die Festwochen. Die beginnen meist ab dem 20. März und gehen bis zum Nationalfeiertag am 17. Mai. In dieser Zeit brausen die Schüler in oft aufwendig ausgestatteten
Party-Bussen quer durchs Land. Das bedeutet Vollgas – getanzt und getrunken wird die ganze Nacht. Der Haken dabei ist, dass die Gymnasiasten ihr Abi dann noch gar nicht in der Tasche haben. Erst in den Wochen nach der Endlosparty folgen die vier großen Abschlussprüfungen. Auch während der „Russe“-Zeit müssen die Dauerkatergeplagten also tagsüber in die Schule.

Weil in diesen Wochen gern geschwänzt wird, führte die Behörde eine Maximalgrenze für Fehltage ein. Mit einer ungebetenen Folge: Immer mehr Abiturienten nüchtern nun im Unterricht aus statt daheim. Das wiederum hat Ministerpräsidentin Erna Solberg auf den Plan gerufen. „Vielleicht werde ich langsam alt, aber ich hoffe, dass außer mir auch andere reagieren. Die ‚Russe‘-Zeit ist spaßig, aber die Schule ist wichtig, und wenn am nächsten Tag Schule ist, sollte man das Feiern begrenzen“, rügt die 56-Jährige die Schüler auf Facebook. Der Tadel ist ungewöhnlich. Denn der jährliche Exzess ist eine so tief im Land verwurzelte Tradition, dass sie von der Gesellschaft nicht nur akzeptiert, sondern auch gefördert wird. Schließlich haben die meisten Norweger Abitur: Jung und Alt erinnern sich gern an ihre verrückte „Russe“-Zeit. Außerdem sorgen die Jugendlichen für pralle Umsätze.

Die Partys wurden allerdings im Laufe der Jahrzehnte immer länger und exzessiver. „In den 60er-Jahren feierten die Abiturienten nur ein paar Tage um den Nationalfeiertag herum. Jetzt sind es Wochen“, sagt Christiane Nökling, Deutschlehrerin am renommierten Osloer Handelsgymnasium, unserer Zeitung. „Ich gönne ihnen das ja, aber es ist bedenklich und traurig, wenn einige Schüler jeden Tag trinken. Die spielen mit dem Feuer und riskieren ihre Abinote.“ In der Tat seien einige Schüler sehr unausgeschlafen und hätten in ihrem Unterricht eine Fahne, sagt die 67-jährige Lehrerin. „Ich glaube auch, die neue Zügellosigkeit hat damit zu tun, dass Norwegen nach den Ölfunden Ende der 60er-Jahre so reich geworden ist.“

In der „Russe“-Zeit gehe es längst nicht nur um Alkohol, sondern vor allem um Zusammenhalt und Kreativität, stellt dagegen die 19-jährige Gymnasiastin Ruth Jakobsen aus Oslo klar. Mit 20 Mitschülerinnen hat sie zu einem Party-Bus zusammengelegt – jeder gab rund 4300 Euro. Vom übrig gebliebenen Geld haben sie dann noch einen nüchternen Chauffeur angemietet. Die Schüler trafen sich schon im Vorfeld regelmäßig, malten den Bus zusammen an und richteten ihn ein. „Born to Rage“, „Geboren um auszuflippen“, heißt Ruths Bus. „Das ist selbstironisch gemeint“, sagt sie. „Mir gefällt an den Feiern am besten, dass man in einer Gemeinschaft zusammenwächst und Freunde fürs Leben findet.“ Andere Schüler sehen die Busse kritisch, sprechen von Kommerzialisierung und einem Vergnügen nur für reiche Kinder. Ruths Mitschüler Hermann Zahn etwa ignoriert die Partys: „Meinen Abinote ist mir eben wichtiger“, sagt der 19-Jährige.