Berlin. Viele Erzieherinnen fühlen sich überfordert und scheitern an Vorstellungen der Eltern. Die Autorin Tanja Leitsch berichtet darüber.

Curtis-Bo ist drei Jahre alt und hat schon einen Kniefall verdient. Das findet zumindest seine Mutter, die zu Beginn der Eingewöhnungsphase im Kindergarten die Erzieherin bittet, jeden Morgen vor ihrem Sohn in die Hocke zu gehen – aus rein pädagogischen Gründen: Die Mutter von Curtis-Bo hat nämlich in einem Ratgeber gelesen, dass es wichtig ist, kleinen Kindern auf Augenhöhe zu begegnen.

Annas Mutter dagegen hat sich am selben Morgen gegen den Gang zum Kinderarzt und für den Kindergarten entschieden. Das Kind hat zwar Bronchitis, doch die Mutter muss zu einem beruflichen Termin – daran lässt sich nun wirklich nichts ändern, meint Annas Mutter. Die Erzieherin solle halt mal ein Auge zudrücken und das kranke Mädchen betreuen, Ansteckungsgefahr hin oder her.

Das Personal fühlt sich überfordert

Nur zwei Situationen, die stellvertretend für den täglichen Wahnsinn stehen, denen sich Erzieher in Deutschlands Kindergärten ausgesetzt sehen. Viele arbeiten am Rand des Nervenzusammenbruchs: Laut einer Umfrage der Katholischen Hochschule in Aachen weisen, verglichen mit der Gesamtbevölkerung, mehr als doppelt so viele Erzieher ein deutlich erhöhtes Stressniveau auf.

Sie gehören zur Hochrisikogruppe für Burn-out-Erkrankungen. Rund ein Drittel des Fachpersonals sucht sich nach der Ausbildung in einer Kita lieber einen anderen Job, berichtet die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Zahlen, die ausgerechnet in Zeiten, in denen Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig 100.000 zusätzliche Kita-Plätze schaffen möchte, eine klare Sprache sprechen. Rund 330.000 staatliche Erzieher arbeiten aktuell in Deutschland. Viele von ihnen fühlen sich überfordert, unverstanden und wenig wertgeschätzt.

Vorstellungen der Eltern vs. pädagogischer Alltag

Tanja Leitsch hat als Autorin die „Die Rotzlöffel Republik“ beschrieben.
Tanja Leitsch hat als Autorin die „Die Rotzlöffel Republik“ beschrieben. © Benevento/König

Tanja Leitsch (39), Diplom-Pädagogin und Systemischer Coach aus dem Hamburger Umland, hat sechs Jahre lang Erfahrungen als Erzieherin in Kindergärten gesammelt. Sie sagt: „Oft prallen im Kita-Alltag die Wunschvorstellungen der Eltern und die neuesten Erkenntnisse der Erziehungswissenschaften auf den harten Boden der Realität.“ Die aktuelle Situation in deutschen Kindergärten macht ihr Sorgen.

Viele Kinder seien mit drei Jahren noch nicht trocken, könnten noch nicht richtig sprechen oder mit Besteck essen. Nicht wenige verbringen mehr als zehn Stunden täglich in der Kita, weiß die Expertin. „In der Zeit ist es den Erziehern gar nicht möglich, alle Entwicklungsschritte angemessen mitzubegleiten oder allen Bedürfnissen gerecht zu werden.“ Derzeit kommen auf eine vollzeitbeschäftigte Kita-Fachkraft durchschnittlich 9,3 Kindergartenkinder, wie es im „Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme“ der Bertelsmann-Stiftung heißt. Zu viele, findet Leitsch. „Die Rahmenbedingungen in deutschen Kindergärten müssten sich ändern“, fordert sie. Sie fordert kleinere Gruppen mit sechs bis acht Kindern pro Erzieher.

Autorin will Eltern und Kita-Betreiber wachrütteln

Leitsch hat ein Buch über ihre Erfahrungen geschrieben: Jüngst erschien „Die Rotzlöffel-Republik – Vom täglichen Wahnsinn in unseren Kindergärten“ (Benevento Publishing). Das Ziel der Autorin: Sie wolle aus Sicht der Erzieher berichten und hoffe, dass die Verantwortlichen in Politik und Wissenschaft „aufwachen“. Denn Erzieher finden sich heutzutage in steilen Hierarchien wieder, in denen ihre Meinung kaum zählt. „Bei den Trägern der Kindergärten müsste ein Bewusstsein dafür entstehen, dass jede Gruppe individuell zu betrachten ist“, sagt Leitsch. Die eine Gruppe brauche mehr Bildungsanreize, die andere mehr Bindungselemente. Ein starres Konzept könne deshalb nie die Antwort auf alle Fragen sein.

Um Erzieher zu entlasten, müssten jedoch auch die Eltern ihre extreme Anspruchshaltung überdenken. Einige verfielen dem Förderwahn und seien zu Chef-Erklärern mutiert. Andere stellten ihren Beruf über die Bedürfnisse des Kindes – Leitsch hat oft erlebt, wie Eltern ihre kranken Kinder in der Kita abgeben. Oberstes Ziel müsse es sein, die Kommunikation zwischen den Beteiligten zu verbessern. Die Eltern, sagt Leitsch, müssen verstehen, dass die Erzieher, denen sie ihre Kinder für viele Stunden anvertrauen, tiefe Bindungen zu ihren Kindern haben. „Deshalb sind die Erzieher aber auch mehr als früher darauf angewiesen, eng mit den Eltern zusammenzuarbeiten.“