Berlin. Immer mehr Nachbarn ziehen in Deutschland gegeneinander vor Gericht. Die Leute haben das Gespräch verlernt, erklärt ein Schiedsmann.

Es geht um 2,5 Zentimeter. Für Außenstehende lächerlich wenig, aber in Borkheide in Brandenburg der Beginn eines heftigen Zoffs unter Nachbarn: Weil das Dach eines kleinen Friseursalons eine Winzigkeit aufs Nebengrundstück ragt, hat die Anwohnerin (77) den Friseur (48) verklagt. Ihre Forderung: Das Dach soll weg. Der Haarschneider holte zum Gegenschlag aus, reichte wiederum Klage gegen die Nachbarin ein – weil deren Holzzaun nicht genehmigt sei. Ein Streit, der exemplarisch steht für die zunehmende Streitlust unter deutschen Anrainern.

Die Klagefreude treibt sonderbare Blüten. Über eine halbe Million Gerichtsverfahren mit zerstrittenen Nachbarn finden jährlich in Deutschland statt, schätzen Experten. Laut einer Umfrage des Leipziger Marktforschungsinstituts Keyfacts liegen zwölf Millionen Haushalte in Deutschland im Clinch mit Menschen von nebenan. Richter müssen sich mit herüberwachsenden Ästen, lästigem Zigarettenrauch oder zu lauten Fernsehern befassen. Nicht selten gehen Nachbarn sogar aufeinander los.

Gebell des Dackels

In Itzehoe schlug ein 32-Jähriger vor wenigen Tagen ein Loch in die Wohnungstür seines Nachbarn, weil ihm dessen Musik zu laut war, und verletzte ihn. Ein vergleichsweise glimpflicher Ausgang. Im unterfränkischen Randersacker drehte ein 46-Jähriger durch und brachte seinen Nachbarn mit einem Messerstich um. Die beiden hatten sich immer wieder über Kleinigkeiten gestritten – Mülltonnen auf der falschen Grundstücksseite, unrechtmäßig entsorgter Grünschnitt und das Gebell des Dackels.

Einer, der sich mit Zoff am Zaun auskennt, ist Bodo Winter. Der 65-Jährige – grau-braunes, volles Haar, hessischer Dialekt – arbeitet seit 17 Jahren als ehrenamtlicher Schiedsmann in Büdingen bei Frankfurt am Main. Sein Job besteht darin, die Gerichte von Bagatellen zu entlasten, indem er zerstrittene Parteien zu einer Einigung bewegt. Mit rund 40 Fällen bekommt er es Jahr für Jahr zu tun.

Qualm auf Nachbargrundstück

Und das nur im kleinen Büdingen mit seinen 20.000 Einwohnern. Es stimme etwas nicht mit der deutschen Streitkultur. „Die Leute haben verlernt, miteinander zu reden“, sagt Winter. Das sei ein wichtiger Grund für die Vielzahl von Nachbarschaftsstreits. Viele, so Winter, fressen Ärger in sich hinein, bis sie irgendwann bei nichtigem Anlass explodieren. Oder sie versuchen, es dem ungeliebten Nebenmann mit gleicher Münze heimzuzahlen. „Dann schaukelt sich so eine Geschichte hoch: Mich stört der rauchende Grill, aber statt das Gespräch zu suchen, zünde ich auch einen Grill an und wedele den Qualm aufs Nachbargrundstück“, sagt der Schlichter.

Wie viele andere Schiedsleute auch hat Winter seit einigen Jahren immer mehr zu tun. Mit den Hintergründen dieser Scharmützel hat sich Jan Philipp Reemtsma beschäftigt, der Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Das eigene Zuhause sei ein geschützter Raum, schreibt Reemtsma. „Darum schlägt eine Grenzverletzung in diesem Bereich sofort durch, wird scheinbar irrational beantwortet.“

Deutsche sind lärmempfindlich

Die Gesellschaft für Konsumforschung hat untersucht, über welche Angewohnheiten ihrer Nachbarn sich die Deutschen am meisten aufregen. Haustiere und nicht beachtete Nachbarschaftspflichten sind häufige Streitpunkte, besonders oft nervt sie aber Lärm, egal ob durch Partys, Kindergeschrei oder Sex. „Gesteigerten Egoismus und zunehmende Rücksichtslosigkeit“ beobachtet auch der Münchener Haus- und Grundbesitzerverein, verweist dazu auf eine wachsende Zahl elektrischer Geräte von der Heckenschere bis zum Hochdruckreiniger.

Bodo Winter, der Schiedsmann aus Hessen, empfiehlt, rechtzeitig das Gespräch zu suchen, wenn man sich ärgert. „Außer mit dem Ehepartner hat man mit kaum jemandem so viele Berührungspunkte wie mit den Nachbarn“, sagt Winter. Aus seiner Erfahrung weiß er: „Ein langer Streit raubt die gesamte Lebensqualität.“