Berlin. Die Stromlinie kommt aus der Aerodynamik. Lange galt sie als Sinnbild der Moderne und wurde weltweit zum politischen Heilsversprechen.

Mehmet Scholl war ein erfolgreicher Fußballer – achtmal Deutscher Meister, fünfmal Pokal-, einmal Champions-League-Sieger, Europameister. Heute ist er Inhaber eines Plattenlabels, Fernsehexperte und meist ein höflicher Mensch. Manchmal aber zeigt Scholl, 46, Ecken und Kanten.

Mario Gomez zum Beispiel, Stürmer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, musste sich 2012 vor einem Millionenpublikum des Nichtstuns anklagen lassen. Scholls Aussage, Gomez habe sich in einem Spiel beinahe wund gelegen, ist zum Klassiker geworden. Und auch Joachim Löw wurde Ziel seiner Kritik: Bei der letzten Europa­meisterschaft warf Scholl Löw Ängstlichkeit vor. Während Deutschland den Sieg gegen Italien feierte, meckerte der Ex-Profi an Trainer und Taktik herum.

Bei Gomez und Löw hat sich Scholl später entschuldigt, ein Hauch von Stacheligkeit aber gehört zu seinem Image. In der Werbung hat er einem Auto sein Gesicht geliehen, das es darauf abgesehen hat, das Establishment zu ärgern.

Viele Menschen distanzieren sich bewusst

Charaktere wie Mehmet Scholl haben durchaus Konjunktur. Das Internet ist voll von Interviews mit Musikern, Politikern oder Studenten, die sich bewusst von einer Form distanzieren, die aus der Technik stammt und sich zu einem Sinnbild entwickelte für Geschwindigkeit und Modernität: die Stromlinie, das geografische Hilfsmittel zur Darstellung des Luftwiderstands. Heute wird sie oft auf Menschen übertragen und mit Negativem verbunden – zu angepasst, zu langweilig, zu stromlinienförmig.

„Die mittlere und ältere Generation der Deutschen kann mit der Stromlinie noch eine historische Erfahrung verbinden. Bei den 20- bis 30-Jährigen würde ich nicht darauf wetten, dass sie die Hintergründe kennen“, sagt Jürgen Bleibler. Monatelang haben der Abteilungsleiter des Zeppelinmuseums und sein Team Exponate und Geschichten zur Stromlinie zusammengetragen. Seit etwa drei Wochen ist dazu in Friedrichshafen eine Ausstellung zu sehen.

Es ist eine Schau, die mehr zeigt als die Geschichte einer Formensprache. Es geht um technische Vielfalt, historische Brüche und eine Gesellschaft im Wandel. Die Ausstellungsmacher spannen den Bogen von der Luftschifftechnik über Rekordautos bis hin zum Menschen im Sport und seinen Bewegungsabläufen. Selbst Produktionsprozesse, Organisationsstrukturen und Kommunikation, so die Aussage, können einer Optimierung unterliegen.

Ein Brite experimentiert mit der Delfinform

Der Siegeszug der Stromlinie beginnt Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Engländer Sir George Cayley (1773-1857) experimentiert für seine Gleiter und Luftschiffe mit der Delfinform. Gegen Ende des Jahrhunderts beginnt die Entwicklung des Starrluftschiffs, das unter dem Synonym Zeppelin große Erfolge feiert.

„1919 entsteht am Bodensee das erste formoptimierte Modell und wird zur Triebfeder für den Bau eines großen Windkanals“, sagt Jürgen Bleibler. Ab 1921 wächst im Süden Deutschlands ein Kompetenzzentrum heran. In den 20er- und 30er-Jahren wird dort – beflügelt von den Fortschritten im Leichtmetallbau – Grundlagenforschung in der Aerodynamik betrieben.

Schon bald nehmen Ingenieure und Techniker auch andere Verkehrsmittel in den Blick. Edmund Rumpler (1872-1940) zum Beispiel lässt sich das Tropfenauto patentieren, Rennwagen von Mercedes oder Auto Union werden immer windschnittiger und jagen Geschwindigkeitsrekorde. Der Schnelltriebwagen DR 877, besser bekannt als Fliegender Hamburger, macht ab 1933 die Strecke zwischen der Hansestadt und Berlin zur weltweit schnellsten Zugverbindung. „Die Stromlinie ist zunächst eine technische Notwendigkeit, um Fahrzeuge oder Luftschiffe schnell und langstreckentauglich zu machen“, erklärt Jürgen Bleibler.

Instrumentalisiert für die Kriegspropaganda

Zu Zeiten der NS-Herrschaft wird die Stromlinie in Deutschland zum Teil eines politischen Heilversprechens. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und der „Schmach von Versailles“ will Deutschland wieder etwas darstellen. Die Stromlinie – im Privaten noch ziemlich unbeliebt – wird zur nationalen Form erhoben. Instrumentalisiert für Kriegspropaganda und Weltmachtanspruch wird sie Ausdruck einer furchteinflößenden Staatsmaschine.

„Die Stromlinienform mit Bedeutung aufzuladen, ist keine Erfindung der NS-Diktatur“, sagt Jürgen Bleibler. In den USA zum Beispiel werden die schnittigen neuen Eisenbahnen in den 30er-Jahren zu Skulpturen des Fortschritts.

Und auch dort verbindet sich Maschinengläubigkeit mit kulturellem Bewusstsein. Die Amerikaner feiern das Ende der großen Wirtschaftskrise. „Und auch nach Japan oder Polen hat es die Stromlinie geschafft. Man glaubte vielerorts, man müsse sie sich gönnen, um zu zeigen, dass man am Puls der Zeit ist“, sagt Bleibler.

USA treiben Entwicklung auf die Spitze

Toaster aus den 50er-Jahren
Toaster aus den 50er-Jahren © zeppelin-museum/Markus Tretter | zeppelin-museum/Markus Tretter

Die USA und ihre Designer schließlich treiben die Entwicklung in eine andere Richtung – und auf die Spitze. Dort funktioniert die Stromlinie bald als Form des Optimismus schlechthin. Die einstige Ästhetik der Avantgarde wird massentauglich und von technischer Notwendigkeit getrennt. Industriedesigner Raymond Loewy (1893–1986), der erst Lokomotiven und Autos entwirft, bringt nach und nach fast alles auf Linie – Toaster, Lippenstifte, Kaffeetassen, Möbel. Die Form wird ein Symbol für den „American Way of Life“. Loewy, eigenen Aussagen zufolge auf „einem Feldzug gegen den schlechten Geschmack“, macht die Stromlinie zum Verkaufsargument.

Streben nach Konsum und Westbindung

In den 50er-Jahren kommt diese Sicht auch in Westdeutschland an. „Die Stromlinie als ideologisch befrachtetes Element der Vorkriegszeit wird umgedeutet, um den Bruch mit der Vergangenheit zu feiern“, sagt Bleibler. Das Konsumstreben der Wirtschaftswunder-Jahre und die Westbindung der Politik unterstützen die Entwicklung.

Wann genau die glatte Formensprache an Popularität verliert, ist umstritten. Schon in den 60ern aber nimmt ihre Bedeutung ab. Sie wird immer vernehmbarer – auch international – als Formalismus bespöttelt, als sinnentleerte Geste. „Spätestens in den 70er-Jahren waren Ecken und Kanten wieder sehr gefragt“, sagt Bleibler. Es ist die Zeit des Aufbegehrens.

Bedeutung für Technik

Was von der Stromlinie bleibt, ist ihre Bedeutung für Technik und Aerodynamik. Während die Formensprache in den Hintergrund getreten ist, ist die Optimierung des Luftwiderstands von Fahr- oder Flugzeugen dank Datenverarbeitung und Digitalisierung in immer neue Dimensionen vorgestoßen.

„Formensprachen kommen und gehen“, resümiert Jürgen Bleibler. Um dann doch eine Parallele zwischen Stromlinien-Zeit und dem Heute zu entdecken: „Unsere digitalen Welten mit all den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zukunftshoffnungen, die wir mit ihnen verbinden – die erinnern mich ein bisschen daran.“

Strom-Linien-Form, Zeppelinmuseum Friedrichshafen, bis 17. April, dienstags bis sonntags 10 bis 17 Uhr