Radolfzell/München. Seit 15 Jahren treiben Forscher das Projekt „Icarus“ voran: Zehntausende Tiere sollen in einem weltumspannenden Messnetz Daten sammeln.

Das Projekt klingt wie eine verwegene Mischung aus Science und Fiction: Zehntausende Tiere sollen bald mit Sendern ausgerüstet werden und der Wissenschaft weltweit als lebende Sensoren dienen. Voraussichtlich ab 2017 sollen ihre Daten Aufschluss geben nicht nur über Wanderungen von Vögeln, Fischen und Säugetieren, sondern auch über Unwetter und Klimaveränderungen, drohende Vulkanausbrüche, Erdbeben, Tsunamis und die Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Gleichzeitig sollen sie dem Schutz der Tiere dienen.

Letztlich geht es um nichts weniger als ein weltumspannendes Messnetz, das dem Menschen Vorhersagen für verschiedenste Phänomene erlaubt, die ihm derzeit noch verborgen sind. Gesammelt wird die Datenflut auf der Internationalen Raumstation „ISS“, die etwa 400 Kilometer über der Erdoberfläche ihre Bahnen zieht.

Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell am Bodensee, treibt das ambitionierte Projekt seit 15 Jahren voran – und hat es auf den Namen „Icarus“ getauft: International Cooperation for Animal Research Using Space. Die Grundidee besteht darin, Tiere mit Mini-Sendern auszustatten, die nicht nur ihre Position aufzeichnen, sondern noch weitere Daten wie Körpertemperatur, Beschleunigung und Ausrichtung zum Magnetfeld der Erde.

Ebola-Viren bis zum Wirt zurückverfolgen

So könne man Migrationsrouten einzelner Arten erfassen, ihre Orientierung entschlüsseln und bedrohte Tiere besser schützen, sagt Wikelski und nennt ein Beispiel: „Bei den Wanderungen von Weißstörchen gehen in Afrika und über den Meeren etwa 30 Prozent der Tiere verloren. Wir vermuten, dass sie sterben, haben aber keine Ahnung, wann, wo und warum.“ Die sogenannten Tags, die Daten speichern und regelmäßig funken, könnten dies verraten. Die Sender können etwa registrieren, wie Schwärme von Flughunden, die mit dem Ebola-Virus in Kontakt kommen, durch Afrika ziehen, erläutert Wikelski. „Da ihr Immunsystem den Kontakt mit Ebola speichert, könnten sie unsere besten Spürhunde für den Aufenthaltsort des tatsächlichen Ebola-Wirtes sein.“

Zeigen Wasservögel in Asien merkwürdiges Flugverhalten, könnte dies ein Hinweis auf Erkrankungen wie etwa Vogelgrippe sein. Die Flugdaten von Schneegeiern (Gyps himalayensis) wiederum könnten Rückschlüsse auf Windströmungen im Himalaja ermöglichen. Ein Pilotprojekt läuft seit Jahren am Ätna auf Sizilien. An den Hängen des Vulkans tragen Dutzende Ziegen Geräte, die ihre GPS-Position und ihre Bewegungsdaten aufzeichnen.

Tatsächlich registrierten die Forscher seit Januar 2012 mehrmals ungewöhnliche Aktivitäten der Tiere – vier bis sechs Stunden später folgte jeweils eine starke Eruption. „Tierische Messsysteme übertreffen die Leistungen von technischen Systemen bei Weitem“, sagt Wikelski. „Wir müssen sie nur verstehen.“

Tags sind kaum drei Quadratzentimeter groß

Basierend auf dem Verhalten von Tieren könne man mit Hilfe von Algorithmen Frühwarnsysteme aufbauen – etwa für Vulkanausbrüche oder Erdbeben. Inzwischen haben die Forscher Sender entwickelt, die auch kleinere Tiere tragen können. Die mit Solarzellen ausgestatteten Tags sind kaum drei Quadratzentimeter groß und wiegen knapp fünf Gramm. Damit könne man sie nicht nur Störchen und Geiern auf den Rücken packen, sondern auch Amseln oder Staren, sagt Wikelski.

Doch ist es ethisch vertretbar, Hunderten solcher Vögel die mit einer 15 Zentimeter langen Antenne ausgestatteten Geräte an den Leib zu schnallen? „Uns ist bewusst, dass das problematisch ist“, sagt Wikelski. „Aber der Erkenntnisgewinn auch für den Tierschutz ist so enorm, dass wir das für diese Individuen in Kauf nehmen. Unsere Forschungen zeigen, dass gut angebrachte Tags keine große Beeinträchtigung darstellen.“

Größte technische Herausforderung ist die Übermittlung der Daten. Die Tags müssen nicht nur Informationen sammeln, sondern sie auch von den entlegensten Orten zuverlässig weiterleiten. Hier kommt die „ISS“ ins Spiel: Sie überfliegt die Erde alle 90 Minuten auf unterschiedlichen Bahnen zwischen den beiden 52. Breitengraden – also einem Streifen zwischen Berlin im Norden und fast Feuerland im Süden. Nähert sich die Station einem Tag, weckt sie ihn aus seinem energiesparenden Standby-Modus. Beim Überflug funkt der Sender dann in einem Zeitfenster von drei Sekunden ein Mini-Datenpaket von etwa 200 Byte zur ISS.

Raumstation fehlt noch eine leistungsstarke Antenne

Das spart Energie – und erhöht so die Lebensdauer des Tags. Doch noch fehlt der „ISS“ eine leistungsstarke Antenne, um die Daten zu empfangen. Die hat das Unternehmen SpaceTech in Immenstaad am Bodensee schon entwickelt – ebenso wie die Software, die den Wust aus Daten den einzelnen Tieren zuordnen soll, und den Computer, der die Informationen auf der „ISS“ verarbeitet. Am 15. Juni 2017 – so der derzeitige Plan – soll eine „Progress“-Rakete die etwa 130 Kilogramm schwere Antenne vom Weltraumbahnhof Baikonur aus zur „ISS“ fliegen. „Der Termin ist schon reserviert“, sagt Projektkoordinatorin Uschi Müller von der Max-Planck-Gesellschaft.

Dort sollen dann zwei Astronauten das etwa 1,5 Meter lange Teil bei einem mehrstündigen Außeneinsatz am russischen „ISS“-Modul festschrauben. Anschließend wird die Antenne mit dem Rechner verkabelt. „Wenn alles klappt, ist das System im Herbst 2017 einsatzbereit“, sagt SpaceTech-Geschäftsführer Wolfgang Pitz. (dpa)