Braunschweig. Wer sich in der Öffentlichkeit provokant äußert, ist von Empörungswellen im Internet bedroht. Zwei Medien-Experten aus der Region zum Phänomen „Shitstorm“.

Schlagerstar Michael Wendler, FDP-General Patrick Döring, Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach, Sportkommentator Marcel Reif, Blogger Sascha Lobo und Ober-Piratin Julia Schramm haben eins gemeinsam: Sie alle wurden Opfer eines Shitstorms.

Im Falle von Marcel Reif forderten rund 75.000 Facebook-Nutzer jüngst ein Senderverbot für Deutschlands bekanntesten, aber womöglich auch umstrittensten Fußball-Kommentatoren. Auf der Seite „Marcel Reif – Kommentarverbot!“ beschreiben viele Nutzer den Sportreporter als arrogant. An Reif prallte der geballte Unmut offenbar ab. Er ließ wissen: „Solch dumpfe Anonymität interessiert mich nicht.“

Auch Schlagersänger Michael Wendler ließ der Shitstorm scheinbar unbeeindruckt. Dabei bezeichnete ihn die „Bild“-Zeitung vor kurzem als „meistgehassten Mann Deutschlands“. Ursache war ein TV-Bericht, in dem Wendler beschuldigt wird, einen Geschäftspartner bei der Eröffnung eines Lokals auf Mallorca hintergangen zu haben. Unmittelbar nach dem TV-Beitrag gab es eine Facebook-Seite mit der Frage: „Gibt es 100.000 Menschen, die Michael Wendler scheiße finden?“ Die gibt es offensichtlich. Innerhalb kurzer Zeit signalisierten mehr als 300.000 Facebook-Nutzer ihre Zustimmung. Wendler sagte daraufhin trocken: „Ein Mann meines Schlages muss so etwas aushalten.“

Empörungshaltung ist geradezu menschlich

Susanne Robra-Bissantz leitet den Lehrstuhl für Informationsmanagement an der TU Braunschweig und ist selbst gerne bei Twitter und Facebook unterwegs. Die Professorin beobachtet, dass Shitstorms zunehmen, betont aber auch die positiven Effekte der sozialen Medien: „Es gibt nicht nur Shitstorms, es gibt auch jede Menge Fanseiten, jede Menge Diskussionen, die etwas bewirken.“

Für Professor Harald Rau von der Ostfalia-Hochschule Salzgitter ist eine gewisse „Empörungshaltung“, die in den Shitstorms zum Ausdruck kommt, geradezu menschlich. „Früher gab es allerdings genügend Gatekeeper, die als ,Torwächter‘ Diffamierungen ausgefiltert haben“, sagt der Kommunikationsmanager. Vor wenigen Jahren also war es noch Sache von Journalisten, Schriftstellern und Politikern, öffentlich auszuteilen. Heute kann das via Facebook und Twitter jeder. Finden sich Gleichgesinnte zusammen, ist ein Sturm der Empörung schnell entfacht.

Solche Torwächter, wie Rau sie bezeichnet, gibt es auf unseren Internetseiten wie auf vergleichbaren Internetseiten übrigens immer noch – bei unserer Zeitung in Form der Online-Redaktion, die Leser-Kommentare nach der Veröffentlichung überprüft. Dies ist nicht als grundsätzliche Einschränkung der Diskussionsfreiheit gedacht, sondern soll sicherstellen, dass rechtswidrige Äußerungen in der Diskussion außen vor bleiben.

Experten hoffen auf Lerneffekt

Professor Rau nennt ein theoretisches Beispiel, wie soziale Medien den gesellschaftlichen Diskurs verändert haben: „Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Sie konstruieren ein Video, das vermeintlich katastrophale Zustände in der Tierhaltung im Raum Salzgitter zeigt. Dieses Video ist gefälscht – auf diese Weise können Sie aber locker eine ganze gesellschaftliche Bewegung formieren und ohne faktischen Nachweis und Tatsachenbezug, Existenzen zerstören. So geschehen im Mordfall Lena in Emden – hier gab es ja einen Lynchaufruf.“

Obwohl die Empörten im Internet häufig anonym pöbeln, lehnen Robra-Bissantz und Rau ein Vermummungsverbot, das von Teilen der Politik gefordert wird, ab. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) etwa prangerte den Sittenverfall im Netz an und erhielt Zustimmung von den Kirchen. „Nonsens“, sagt der Kommunikationsmanager Rau zum Vermummungsverbot nur. Robra-Bissantz dazu: „Wenn man ein Pseudonym wählt und als derjenige im Web präsent ist, erreichbar ist und diskussionsbereit ist, dann finde ich das nicht schlimm.“ Und: „Das Internet ist außerdem kein rechtsfreier Raum. Bei Diffamierungen kann man rechtlich einschreiten“, so die Professorin.

Dennoch hoffen beide Experten auf einen gewissen Lerneffekt bei den Nutzern. Rau geht es um Aufklärung und eine gesteigerte Medienkompetenz. „Hier hat unsere Gesellschaft in der Tat große Defizite.“

Robra-Bissantz zielt auf die Verantwortung jedes Einzelnen ab. „Wir lernen, Schritt für Schritt mit dem neuen Medium und mit der neuen Webgesellschaft umzugehen. Wir lernen hier neue Konventionen, wir lernen, dass es nicht ein virtueller Raum ist, der mit dem ,realen‘ nicht zusammenhängt, und wir lernen, dass wir uns nicht so benehmen können, wie wir es im ,echten Leben‘ niemals tun würden."

Beschimpfungen aus Foren, Facebook und Twitter:

+++über Erika Steinbach, Vertriebenen-Präsidentin: „Vermute, jetzt, wo @SteinbachErika auch hier ist, fordert sie bald Twitter in den Grenzen von 2007.“

+++über FDP-Generalsekretär Patrick Döring: „Von wegen ‚Tyrannei der Masse‘. Das Dickerchen meint wohl sich selbst.“

+++über den Blogger und Internetexperten Sascha Lobo: „So ein arroganter, angepasster, koksnasiger, inhaltsloser Werbefuzzi kann seinen geistigen Dünnschiss bitte demnächst behalten!“

+++über Schlagerstar Michael Wendler: „Echt peinlich, dieser Angeber und charakterlich eine Null.“

+++über Julia Schramm, bis vor wenigen Wochen Beisitzerin im Bundesvorstand der Piratenpartei: „Sie ist eine Kommerzschlampe.“

+++über Sportkommentator Marcel Reif: „Denkt, er wäre größer als der Fußball selber. Ich kann das selbstverliebte Geschwätz nicht mehr hören!“

Stichwort: Shitstorm

Shitstorm war der Anglizismus des Jahres 2011. So erfuhr der Begriff große öffentliche Wahrnehmung. Seine volle Bedeutung hat das Wort dank sozialer Echtzeitmedien wie Twitter und Facebook erfahren. Noch ist ungeklärt, was genau einen Shitstorm ausmacht und wo er anfängt. Sicher ist, dass es sich um eine Empörungswelle in sozialen Medien und durch soziale Medien handelt. Nicht jede Web-Wut geschieht dabei anonym. Bei Facebook zum Beispiel haben sich viele Nutzer mit ihrem richtigen Namen angemeldet. Und nicht jede kollektive Meinungsdemonstration ist gleich ein Shitstorm, es steckt manchmal auch ernsthaftes Protestpotenzial dahinter. Viele Shitstorms kennzeichnet Missgunst als Antriebsfeder.