Wilhelmshaven. Wer im Urlaub am Nordseestrand spaziert, sollte die Augen aufhalten: Seit einiger Zeit sind dort wieder Seepferdchen zu entdecken. Warum, ist noch unklar.

Im vergangenen Winter sind an der Nordseeküste einige seltene Tiere angespült worden. So wurden auf den Inseln Norderney und Amrum je eine sowie auf Sylt zwei Funde von Meeresschildkröten erfasst, wie Rainer Borcherding von der Schutzstation Wattenmeer der Deutschen Presse-Agentur mitteilte. Das seien so viele wie in den 15 Jahren zuvor. Zudem wurde im September eine tote Lederschildkröte aus der Nordsee vor Schleswig-Holstein geborgen. Auch Seepferdchen werden immer häufiger in den Spülsäumen am Wattenmeer entdeckt.

Um deren Herkunft zu klären, suchen Wissenschaftler im Rahmen eines Forschungsprojekts seit 2022 nach angespülten, leblosen Tieren. Strandspaziergänger sind dabei zur Mithilfe aufgerufen: Wer angespülte tote Seepferdchen an Stränden findet, soll die Funde melden und bei Nationalpark-Häusern abgeben. Dort werden die Tiere dann eingefroren und später ans Festland gebracht. Die unter Schutz stehenden Tiere mit nach Hause zu nehmen, ist nicht erlaubt.

An der niedersächsischen Küste sind so bislang insgesamt 17 frischtote Funde von Kurzschnäuzigen Seepferdchen eingesammelt worden, wie eine Sprecherin des Oldenburger Landesmuseums Natur und Mensch auf dpa-Anfrage mitteilte. Das Museum koordiniert das Projekt in Niedersachsen. Alle Funde stammen von den Ostfriesischen Inseln. Zudem erreichte vor Kurzem auch ein getrocknetes Seepferdchen aus dem Jahr 1976 von Juist die Wissenschaftler. „Wir bekommen immer mal wieder Hinweise von Menschen, die früher mal Seepferdchen gefunden haben. Auch solche Altfunde sind wichtige Belegexemplare für unsere Sammlung“, teilte die Museumssprecherin mit.

Im aktuellen Bestand der Datenbank des Portals „Beach Explorer“ seien 98 Fundmeldungen von Kurzschnäuzigen Seepferdchen (Hippocampus hippocampus) aus dem Wattenmeer seit 1949 erfasst, sagte Borcherding. Davon stammen 53 aus Niedersachsen, 18 aus den Niederlanden, 15 aus Schleswig-Holstein, 9 aus Dänemark sowie 3 aus der offenen Nordsee. Die Zahlen aus den Niederlanden sind den Angaben zufolge jedoch unvollständig. Die Schutzstation Wattenmeer ist Projektträger des „Beach Explorers“, der vom Bundesamt für Naturschutz gefördert wird. Es handelt sich um eine digitale Bestimmungshilfe für mehr als 1500 Arten von Strandfunden der Nordseeküste – außerdem können Funde gemeldet werden.

Die weitaus größte Zahl der Seepferdchen-Funde stammt aus den vergangenen drei Jahren. Von vor 2000 liegen nur sieben Funde aus 50 Jahren vor. In den 20 Jahren bis 2019 waren es fünf Funde. 2020 und 2021 wurden jeweils acht Stück gemeldet. Im Jahr 2022 waren es 38 und im vergangenen Jahr weitere 23 Funde. Allein in diesem Jahr wurden bereits neun Pferdchenfunde gemeldet.

Niedersächsische Nordseeküste: Woher kommen die angespülten Seepferdchen?

Noch geben die Funde der seltenen Tiere Forschern Rätsel auf. Es ist bislang nicht eindeutig geklärt, woher die Tiere stammen oder ob es möglicherweise feste Populationen in der deutschen Nordsee gibt. „Die Funde zeigen, dass Seepferdchen in den Spülsäumen im Wattenmeer häufiger werden“, sagte Hans-Ulrich Rösner, Leiter des WWF-Wattenmeerbüros der dpa. „Auch wenn die Tiere immer noch selten sind, so ist das doch ein Anlass zur Freude. Wir wissen aber noch nicht, ob sich die Seepferdchen schon bei uns im Wattenmeer angesiedelt haben, oder ob sie durch Stürme von anderen Küsten angetrieben werden.“

Einzelfunde seien natürlich immer mit Vorsicht zu interpretieren, sagte Biologe Rainer Borcherding. Trotzdem seien sie Indizien, die auf Tendenzen hinweisen können: So zeigen demnach drei Funde des um 1970 aus dem Wattenmeer durch Überfischung verdrängten Nagelrochens in den Jahren 2016, 2017 und 2020, dass die Art das Potenzial hat, zurückzukehren und sich im Wattenmeer wieder anzusiedeln. Zwei Blauhaie (2017 Sylt, 2023 Baltrum) und ein Thunfisch (2015 Sylt) zeigten ebenfalls, dass auch diese großen Wanderfische wieder bis in die Nordsee kommen, wo sie in früheren Jahrhunderten normale Erscheinungen waren.

Ein auf dem Wattboden schwer zu erkennender Nagelrochen liegt im seichten Wasser. Auf dem Weg zur Insel Baltrum haben Wanderer das seltene Tier 2020 entdeckt.
Ein auf dem Wattboden schwer zu erkennender Nagelrochen liegt im seichten Wasser. Auf dem Weg zur Insel Baltrum haben Wanderer das seltene Tier 2020 entdeckt. © DPA Images | Uilke van der Meer

Obwohl das Wattenmeer als Nationalpark unter besonderem Schutz steht, ist seine Unterwasserwelt immer noch bedroht, wie Rösner sagte. „Viele Arten sind schon vor Jahrzehnten verschwunden. Einzelne Funde zeigen aber, dass Arten wie der Nagelrochen versuchen, von anderen Küsten ins Wattenmeer zurückzukommen.“ Eine solche Wiederbesiedlung könne jedoch nur klappen, wenn große Teile des Nationalparks nicht mehr befischt werden und sich die Unterwasserwelt dort wieder entfalten könne.

Wie geht es mit den Seepferdchen in der Nordsee weiter?

Wie geht es nun bei den Seepferdchen weiter? Geplant ist, die Funde in einem weiteren Forschungsprojekt an der Universität Kiel genetisch zu untersuchen. Dazu werde ein Stück Gewebe aus der Flosse der Tiere entnommen und dann sequenziert, sagte Benedikt Wiggering, Experte für Biodiversität bei der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer in Wilhelmshaven. „Damit wir genauer wissen, aus welcher Population sie tatsächlich kommen.“

Die Kurzschnäuzigen Seepferdchen gelten seit den 1930er-Jahren im Wattenmeer als nahezu verschwunden. Ihr Lebensraum sind etwa Tang-, Algen- oder Seegraswiesen, die ständig mit Wasser überflutet sind. Vor der niedersächsischen Küste sind solche Habitate derzeit nicht bekannt – allerdings vor der niederländischen Küste und im Ärmelkanal.

Deshalb ist eine These der Forscher, dass die Tiere von dort verdriftet und an der deutschen Küste angespült werden. Dafür spreche auch, dass bislang nur junge männliche Tiere gefunden werden, sagte Wiggering. Gäbe es eine feste Population, müssten auch ältere oder weibliche Tiere mit der Zeit entdeckt werden, ist Wiggering überzeugt. „Wir haben bislang aber keinen Hinweis auf eine konstante Population.“

Eine andere These ist, dass es neben Seegraswiesen auch andere, neue Lebensräume für die Tiere gibt. An den Fundamenten von Offshore-Windkraftanlagen etwa siedele sich Blasentang an, in dem auch Seepferdchen leben könnten, sagte Wiggering.

Auch inwieweit die Erwärmung der Nordsee einen Einfluss auf das Vorkommen haben könnte, nehmen die Forscher in den Blick. „Wir haben die Hypothese, dass der Klimawandel das Vorkommen der Seepferdchen positiv bedingen kann“, sagte Wiggering. Dies sei wahrscheinlich aber eher ein sekundärer Effekt als ein eigentlicher Auslöser.