„Drei junge Leute setzten sich mit unserer Verantwortung für den Frieden auseinander – es war wie ein Lichtstrahl.“

Volkstrauertag. Totensonntag. Als wäre dieser Monat nicht dunkel genug! Diese Tage scheinen auf die Stimmung zu drücken. Aber gerade die Gedenkstunde des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge bewies in der Dornse des Braunschweiger Altstadtrathauses, wie wichtig und wie gut es ist, dass wir uns erinnern. Der Bezirksvorsitzende Walter-Johannes Herrmann, ein ehrenamtlich engagierter Mann von hohen Meriten, bescherte den Zuhörern viel Stoff zum Nachdenken: Rüdiger Becker von der Evangelischen Stiftung Neuerkerode berichtete von Alfred Lohse, drei Jahre alt, und von Dieter Müller, vier Jahre alt. Beide wurden von den Nazis aus Neuerkerode verschleppt und ermordet, nur weil sie anders waren. Becker warnte vor Hasardeuren, die uns heute „an den Gräbern der Opfer vorbei“ mit schnellgängigen Parolen in Gefahr bringen, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Und dann kamen drei junge Leute, Schüler der neunten Klasse des Gymnasiums Gaußschule in Braunschweig. Ihre Auseinandersetzung mit unserer Verantwortung für den Frieden war wie ein Lichtstrahl. Einen dieser Texte, er stammt von Frithjof Thöns, dokumentieren wir auf dieser Seite – nicht als Anklage, sondern zur Anregung.

Krieg ist Leid. Und niemals ein Sieg.

Von Frithjof Thöns

Wir sind Schüler der Gaußschule in Braunschweig und besuchen dort den 9. Schuljahrgang. Ab diesem Alter steht der Geschichtsunterricht an Gymnasien ganz im Zeichen eines erdrückend großen Themas: Krieg. Das bedeutet auch, dass es zunehmend konkret wird, denn der 1. Weltkrieg, mit dem wir uns derzeit ausführlich beschäftigen, liegt noch nicht in der fernen Vergangenheit der historischen Quellen unserer Lehrbücher zurück, sondern ist immer noch präsent. Der Familienstammbaum kann noch klar zurückverfolgt werden bis zu den großen Kriegen, die Großeltern können immer noch davon erzählen. Und deshalb möchte ich heute aus der Perspektive eines Schülers zu Ihnen sprechen, dessen Bezug zum Krieg in Zeiten des Friedens entstanden ist.

In der Schule wird im Unterricht von Krieg gesprochen, ohne dass wir Schüler eine tiefergehende Beziehung dazu aufbauen können, es ist die Rede von zehn Millionen Toten, 50 Millionen, 60 Millionen, aber das sind für uns Schüler in unserer Distanz nur Zahlen. Der Krieg wird oftmals vermittelt wie ein rein strategisches Unterfangen, bei dem es gewisse Einsätze gibt und im Gegenzug zu strategischen Vorteilen bestimmte Opfer erbracht werden. Eine Schlacht, bei der auf einen gefallenen Soldaten zehn gefallene Feinde kommen, gilt als Sieg und wird in der Schule auch als solcher vermittelt. Militärisch betrachtet mag das vielleicht auch stimmen, aber die Perspektive, dass etwa um die gefallenen gegnerischen Soldaten ebenso getrauert wird wie um den der eigenen Seite, wird kaum aufgegriffen. Menschenleben sind keine Ressourcen.

Welchen Nutzen hat die Familie des Gefallenen von diesem „Sieg“, wenn sie dadurch doch trotzdem ihren Sohn, Vater, Bruder, Neffen verloren hat? Und dieser Tod für sie Hunger und Leid bedeutet, weil das Feld nicht mehr bestellt werden kann oder die Invalidenrente nicht ausreicht? Betteln oder Stehlen die einzigen Optionen sind, um zu überleben? Wenn man Krieg wirklich verstehen will, muss man individuelle Schicksale betrachten, nicht die „Effektivität“ von Chlorgas und Sarin gegeneinander abwägen. Solche Schicksale sind zwar meist tragisch, aber ihre Betrachtung ist für das Verständnis von Krieg als sinnlose Grausamkeit notwendig.

Dass eine Generation bisher vom Krieg verschont geblieben ist, darf nicht bedeuten, dass sie sich nicht auch mit ihm auseinandersetzen muss. In diesem Falle droht die Gefahr, dass nicht mehr differenziert wird zwischen politischer Strategie und besagten individuellen Schicksalen, zwischen Kommandeuren und Soldaten, Theorie und Realität. Dass die Begeisterung für Krieg als spannendes Ringen mit anderen um diesen ach so glorreichen „Sieg“ das Bewusstsein verdrängt, mit welchem Leid er doch tatsächlich verbunden ist. Möglicherweise entsteht ein Feindbild, und die Gegenseite vergangener Kriege wird noch heute als verachtungswürdiger Peiniger der Vorfahren oder elendig unterlegener Verlierer wahrgenommen. Wenn das geschieht, ist der erste Schritt bereits getan zu einer Entfernung und Entfremdung zweier Länder, die die Vergangenheit längst überwunden haben.

Der Krieg wird zwar von wenigen gelenkt, aber vom Volk geführt. Doch wieso stimmt ein normaler Bürger in die wütenden Rufe gegen einen Feind ein, mit dem er noch nie in Kontakt gekommen ist, den er nicht kennt? Wieso ist er bereit, seine Familie zurückzulassen, um fremde Menschen zu töten? Eine andere Ansicht ist oft anstrengend, schwer zu verteidigen, unbequem. Deshalb nimmt er bereitwillig an, was ihm von anderen, von Medien, Politikern, Bekannten, diktiert wird. Warum es sich also nicht bequem machen, wenn doch nur ein wenig über den „Feind“ geschimpft wird? Warum? Es ist der Anfang vom Ende.

Wurde erst erfolgreich ein Feindbild inszeniert, ist man mit dem Kopf bereits in der Schlinge. Es ist nur noch eine Frage der Zeit und der Umstände, bis man bereit ist, in den Kampf zu ziehen, um sich der scheinbaren Bedrohung, ganz egal ob politischer, kultureller, wirtschaftlicher oder militärischer Natur, zu erwehren. Selbst Kreise oder Institutionen, die sich traditionell gegen Gewalt und Diskriminierung stellen, etwa die Kirche, sind vor solcherlei Propaganda trotz ihrer Bildung nicht sicher. In den Kondolenzbriefen an die Familie meines Ururgroßvaters, der im 1. Weltkrieg in Frankreich gefallen ist, ist die Rede von „der Weltgeschichte, die zu einem Weltgerichte werden solle über die Völker, die uns den Krieg aufzwangen“, von der notwendigen „Aufopferung des Gatten auf dem großen Altar des Vaterlandes“ und davon, dass es der hinterbliebenen Witwe obliege, sich ihrem vierjährigen Sohn „in echt deutscher Weiblichkeit anzunehmen und ihn zu erziehen, dass er werde seinem guten Vater würdig, tüchtig, tapfer, pflichtgetreu bis zum Tode“.

Und wie die Geschichte ihren Lauf nahm, war es 25 Jahre später tatsächlich an ihm, wie sein Vater in den Krieg zu ziehen und wie er das Grauen industriellen Massenmordes zu erleiden. Bei solchem Denken, wie in den Kondolenzbriefen geäußert, liegt es nahe, dass Väter zu Idolen werden, und Idolen möchte man nacheifern.

Wenn wir Fehler der Vergangenheit auch dauerhaft als Fehler der Vergangenheit ansehen wollen, müssen wir weg von der Betrachtung des Krieges von oben herab hin zu einer Betrachtung von mittendrin. Denn diese Perspektive sagt uns: Krieg ist Leid. Krieg ist Zerstörung. Krieg ist Tod. Und niemals ein Sieg.