„Volkes Stimme schien die Sitzungsräume der Berliner Koalition nicht immer zu erreichen.“

Deutschland geht es gut, sagt eine überwältigende Mehrheit der Bürger. Aber die Parteien, die unser Land im Wesentlichen seit 1949 durch Sturm und Flaute navigiert haben, melden schwere Schäden an Rumpf und Takelage. Die Union, seit 2005 ununterbrochen führende Regierungskraft, hat deutlich an Zustimmung verloren. Bei der SPD steht nach dem Absturz der Titel Volkspartei infrage.

Die kleinen Parteien, die im Bundestag und draußen vor der Tür scheinbar aussichtslos gegen die Hegemonie der Koalition arbeiteten, sind klare Wahlsieger.
Die Grünen verbesserten sich trotz eines uninspirierten Wahlkampfs, womöglich mit unfreiwilliger Hilfe der Autoindustrie und ihrer reichlich sorglos agierenden staatlichen Kontrolleure.
Die FDP erreicht, beflügelt durch ihren Parteichef Christian Lindner, ein zweistelliges Ergebnis. Es ist die Wiederauferstehung auf Basis eines profilierten Wahlprogrammes, dessen prägende Begriffe Freiheit und Selbstverantwortung sind.
Die AfD wird mit weitem Abstand drittstärkste Kraft im Bundestag, getragen von den Ängsten vieler Bürger, sie würden von den etablierten Parteien nicht ausreichend wahrgenommen und könnten am Ende Gäste im eigenen Land werden. Es sind Ängste, auf die die großen Parteien keine überzeugende Antwort fanden. Die massive Abwanderung von Unionswählern zur AfD ist eine bittere Lektion. Möglicherweise wäre das Ergebnis noch höher ausgefallen, wäre da nicht die Unfähigkeit der Rechtspartei, sich gegen Extremisten abzugrenzen.
Und trotz offenkundiger Mobilisierungsprobleme in Ostdeutschland hält die Linkspartei im
Wesentlichen ihr Ergebnis.

Das Wählervotum ist so eindeutig, dass mancher von einem „Wahlbeben“ spricht. Es spiegelt aber auch demokratische Normalität. Die Bürger misstrauen stets übergroßen Mehrheiten. Und schürt nicht das Regieren zweier großer Parteien auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner die Unzufriedenheit all jener, die von einer Regierung scharfes Profil und klare Schwerpunkte erwarten?

Die Wählerwanderung hat erkennbar inhaltliche Gründe. CDU/CSU und SPD erschöpften sich über weite Strecken in der Abarbeitung ihrer Wahlversprechen. Zu viele gehörten – Stichwort Maut – in die Kategorie skurriler Liebhaberei. Volkes Stimme schien die Sitzungsräume nicht immer zu erreichen: Wo hätte sich die Erfahrung vieler Bürger widergespiegelt, dass Mieten explodieren und auf dem Markt Wildwest-Sitten an der Tagesordnung sind? Wo blieb die Antwort auf überhandnehmende befristete Arbeitsverträge, die Zunahme prekärer Beschäftigung mit der Folge niedriger Rentenansprüche oder auch die deutliche Verschlechterung der öffentlichen und persönlichen Sicherheit?

Offensichtlich ist ein großer Teil der Wählerinnen und Wähler der Meinung, es sei in Deutschland allzu „alternativlos“ zugegangen. Dieses Wort bringt den Regierungsstil des dritten Kabinetts Merkel auf den Punkt. Die vertrauenerweckende Selbstgewissheit der Regierungschefin geriet zur Wählervergrämung, wenn sie in eine an Borniertheit grenzende Unbeweglichkeit umschlug. Selbst das Staatsversagen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise versuchte die Koalition auszusitzen. Erst die Wahlerfolge der AfD schufen Bewegung.

Merkel wird mit großer Sicherheit dennoch Kanzlerin bleiben – die Sozialdemokraten tragen den größten Schaden davon. Man kann das ungerecht finden, angesichts der teuren Sozialprojekte, die die SPD als Juniorpartner durchsetzte. Mit „Schulz ist schuld!“ griffe die Partei zu kurz. Der Spitzenkandidat musste ein Programm vertreten, das es mit Schlagworten bewenden ließ, die sich abzeichnende Selbstfindung in der Opposition könnte für die Partei heilsam sein. Und der Erfolg engagierter Sozialdemokraten wie Falko Mohrs in Wolfsburg und Carola Reimann in Braunschweig kann ihr Hoffnung geben.

Mit Blick auf die Landtagswahl entsteht der Eindruck, als sei die sozialdemokratische Welt in Niedersachsen vergleichsweise in Ordnung. CDU-Chef Althusmann mag die Windstille in seinem Rücken mit Unbehagen wahrnehmen. Sein Schattenkabinett dürfte die Sehnsucht der Wähler nach einer Ablösung Stephan Weils jedenfalls nicht gefördert haben.