„Mag sein, dass die CDU der Parteifreundin Twesten nicht aus vollem Herzen applaudierte, sondern aus Freude über einen unverhofften, unverdienten Machtzuwachs.“

„Die Leute wirken seltsam, wenn du ein Fremder bist.“
The Doors

Die meistfotografierte Frau des Tages in Niedersachsens Landesparlament war die CDU-Abgeordnete Elke Twesten. Sie wirkte nicht glücklich. Es ist nicht schön, wenn man den Zorn der ehemaligen Parteifreunde und des früheren Koalitionspartners abbekommt. Es macht keine Freude, wenn man über sich hört und liest, man habe ein Charakterproblem. Der immer auf Wirkung bedachte Kolumnist Jakob Augstein brachte jetzt auf „Spiegel online“ die Begriffe „Niedertracht in Niedersachsen“, „Verräterin“, „gewissenlosen Egoismus“, „Eitelkeit einer Abgeordneten“, „erbärmlich“, „gekränkte Eitel- keit“, „Geltungssucht“, „Überläuferin“ und „Illoyalität“ unter. Augsteins publizistisches Erschießungskommando trat mit dem Satz ab: „Weder ihre Wähler noch ihre neuen Parteifreunde werden dieser Frau jemals wieder vertrauen können.“

Tatsächlich mag es sein, dass die CDU der neuen Parteifreundin nicht aus vollem Herzen applaudierte, sondern aus Freude über einen so unverhofften wie unverdienten Machtzuwachs. Die Regierung Weil muss bis zur Neuwahl nach der Pfeife einer schwarz-gelben Mehrheit tanzen. Das spiegelt, unabhängig von der Bewertung des Twesten-Coups, nicht den Wählerwillen wieder, hat nach langen Jahren der Machtlosigkeit aber zweifellos etwas Befreiendes. Interessanterweise ist Twestens Mandat-Mitnahmeaktion selbst bei CDU-Anhängern sehr unbeliebt. Das entnehmen wir der aktuellen NDR-Umfrage. Es spricht für den Sinn der Bürger für Fairness und Gerechtigkeit.

CDU-Parteichef und -Spitzenkandidat Bernd Althusmann hat derselben Momentaufnahme zufolge gute Chancen, von einer schwarz-gelben Mehrheit zum Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen gewählt zu werden. Wer hätte das geglaubt, als die CDU einigermaßen verzweifelt nach einem Spitzenkandidaten suchte und schließlich den Ex-Kultusminister aus Namibia reimportierte?

Man würde Althusmann Unrecht tun, machte man nur Twestens Grenzüberschreitung und den als „Mutti-Effekt“ bezeichneten Merkel-Bonus für den Aufschwung verantwortlich. Im direkten Vergleich mit dem beliebten Ministerpräsidenten Stephan Weil schneidet er bei der Umfrage sehr ordentlich ab. Althusmann hat es in den vergangenen Monaten verstanden, sich staatstragend zu präsentieren. Seiner Partei, die unter dem Vorsitzenden-Vakuum des späten McAllister litt, gab er die Orientierung zurück.

Und natürlich profitieren er und seine Partei nicht nur vom Vertretungs-Chaos an den Schulen, sondern auch von der unglücklichen Figur, die Weil als VW-Krisenmanager macht. Von der Piëch-Krise bis zum Dieselskandal und den Kartellvorwürfen vermittelte er den Eindruck der Verunsicherung. Statt offensiv einzugreifen und aufzuklären, schien er sich mit Schadensbegrenzung zufrieden zu geben. Es ist deshalb kein Wunder, dass ihm nun die Abstimmung seiner Regierungserklärung mit Volkswagen besonders schadet: Sie passt ins Bild mangelnder Klarheit des Weil’schen Standpunktes.

In der Sache ist sie, bei Licht betrachtet, nicht zu beanstanden. CDU und FDP verkaufen die Wähler für dumm, wenn sie so tun, als hätte Weil etwas anderes getan als die Ministerpräsidenten und Minister aus ihren eigenen Parteien. Aktienrecht und Treuepflichten nehmen auf politische Sensibilität keine Rücksicht.

Kurioser noch als die schwarz-gelbe Gedächtnisschwäche sind die Forderungen nach einer Abschaffung des VW-Gesetzes. Die Sonderregelung, die den Einfluss des Landes Niedersachsen beim weltgrößten Autobauer sichert, hat dem wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens nicht geschadet – es macht selbst in seiner tiefen Krise noch Milliardengewinne. VW ist auch zu schmerzhaften Einschnitten imstande, wie der Sanierungskurs des Markenchefs Herbert Diess im Rahmen des Zukunftspaktes zeigt. Und der Dieselbetrug ist keine Folge der Landesbeteiligung . Die Selbstkontrolle versagte im größten Teil der europäischen Autoindustrie, unabhängig von den Gesellschafterverhältnissen. Da kocht mancher sein ebenso trübes wie dünnes politisches Süppchen, bleibt den Beweis schuldig, was eine Privatisierung für den Industriestandort Niedersachsen leisten könnte, schweigt zu Fragen nach Arbeitsplätzen und Sozialstandards. Was einer wie FDP-Chef Lindner tut, ist bestenfalls politisch niveaulos.

Wäre es nicht zu erwarten, dass Argumentationen auf der Basis von Redlichkeit und sachlicher Richtigkeit stehen? Man beginnt sich ja daran zu gewöhnen, dass plötzlich alle Welt Elektroautos für den ökologischen Heilsbringer hält – obwohl der Strom auf lange Zeit hinaus aus der Kohle käme, Batterieproduktion und -entsorgung keinen Umweltengel bekommen werden. Man nimmt mit degressivem Staunen zur Kenntnis, dass „der Diesel schmutzig“ sei, obwohl aktuelle Motoren gerade dies nicht sind. 30 Prozent Schadstoffreduzierung durch Softwareupdate sind nichts wert, weil „nur Hardware etwas bringt“ (was technisch kurzfristig nicht klappt und sich für viele der alten, manipulierten Motoren niemals lohnt). Und die hohen Umstiegsprämien, die deutsche Hersteller und Toyota nun bieten, sind, wie wir hören, nicht etwa Ausdruck eines umweltverantwortlichen Bemühens, alte Diesel von der Straße zu bringen, sondern eine „Rabattschlacht“. Seltsame Zeiten, auch publizistisch. Selbst angesehene Journalisten offenbaren bemerkenswerten Mut zu starker Meinung auf der Basis schmaler Faktenkenntnis.

Die Vertrauensleute an den VW-Standorten haben wohl recht mit ihrer Unterschriftenaktion. Sie fordern unsere Politiker auf, keinen Wahlkampf auf Kosten der VW-Belegschaft zu machen. Möge es fruchten.