Libyen war früher so etwas wie ein Paradies für afrikanische Migranten: ein Zufluchtsort für Hunderttausende von Westafrikanern, auf dessen Baustellen, Ölfeldern oder Fabriken sie mit für ihre Verhältnisse traumhaften Gehältern rechnen konnten. Seit Muammar al-Gaddafis Regime vor sechs Jahren mit westlicher Hilfe aus der Macht gebombt wurde, ist aus dem Zufluchtsort jedoch eine Hölle geworden – mit immer grausameren Berichten über die Machenschaften von Menschenhändlern, die ihre Opfer als Sklaven verkaufen, in Bordellen halten oder unter Folterungen von deren Familien Gelder erpressen. Noch immer steuern Hunderttausende von Afrikanern den nordafrikanischen Staat an: doch nur, um so schnell wie möglich nach Europa zu kommen – woran viele bereits in der südlibyschen Wüstenstadt Sabha auf schreckliche Weise scheitern.

Vier Monate lang sei er in seinem „Gefängnis“ Morgen für Morgen verprügelt worden, erzählt der 34-jährige Nigerianer Seun Femi dem britischen Sender BBC: Mit Dutzenden anderen Migranten sei er „wie Sardinen“ in drei verdunkelten Räumen gehalten worden. Die Menschenhändler nannten es den „Morgentee“: Sie schlugen mit Stöcken, Schläuchen oder Fäusten auf ihre Opfer ein. Dann gaben sie ihnen ein Handy, mit dem sie noch weinend ihre Familien um das geforderte Lösegeld anflehen sollten. Femis Ex-Freundin gelang es erst nach vier Monaten, sein kaputtes Taxi für die verlangten 500 US-Dollar zu verkaufen: Um dieses reparieren zu können, war er überhaupt erst in Richtung Europa aufgebrochen. Femi hatte Glück, dass er sich während der Prügelorgien nur zwei Finger brach: Einer seiner Mithäftlinge wurde vor seinen Augen totgeschlagen, berichtet er.

Die libysche Küstenwache bringt Migranten zurück nach Libyen, die sie zuvor aus Seenot gerettet hatte.
Die libysche Küstenwache bringt Migranten zurück nach Libyen, die sie zuvor aus Seenot gerettet hatte. © Imago

Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, ist den Menschenhändlern keine Grausamkeit zu schlecht: Sie ziehen ihren Opfern Zähne, schneiden ihnen Finger ab oder traktieren sie mit heißen Bügeleisen, während ihre Familienmitglieder am Telefon den Schreien zuhören müssen. „Je mehr wir uns mit den Verhältnissen in Libyen beschäftigen, desto mehr Horrorgeschichten bekommen wir zu hören“, sagt Mohammed Abdiker, Nothilfe-Direktor der Internationalen Organisation für Migration (IOM): „Inzwischen wird sogar von Sklavenmärkten berichtet.“

Diese jungen Migranten warten auf die nächste Chance, nach Europa zu gelangen.
Diese jungen Migranten warten auf die nächste Chance, nach Europa zu gelangen. © ddp

Was zunächst höchstens insgeheim geschah, soll sich inzwischen in aller Öffentlichkeit abspielen. Unter einem Schild mit der Aufschrift „For Sale“ werden Migranten zum Verkauf angeboten, berichtet der Kameruner Shamsuddin Jibril dem britischen „Obser- ver“: „Sie bringen sie in Pritschenwagen auf den Markt. Ihre Hände sind wie einst im Sklavenhandel gefesselt.“ Die IOM spricht von „Hunderten von Migranten“, die auf diese Weise als Sklaven gehandelt würden.

Und dann steht in Sabha auch noch jenes dreistöckige Gebäude, von dem jeder weiß, dass es sich um das Bordell handelt. „Wer da reingeht“, sagt der Nigerianer Fasan Olaside, „kommt nicht wieder raus.“ Frauen sind auf dem Markt der Menschenhändler 2000 Euro Wert – doppelt so viel wie ein Mann. „Wir hatten vor 300 oder 500 Jahren Sklavenmärkte“, sagt Olaside: „Aber wir sind jetzt doch im dritten Jahrtausend!“ Auch Guiseppe Loprete, IOM-Chef in der nigrischen Hauptstadt Niamey, ist bestürzt: „Die Gewalttaten gegenüber Menschen, deren einziger Fehler es ist, von einem besseren Leben zu träumen, sind abscheulich.“

Balde Aboubakar Sidiki hat das Land seiner Familie in Guinea für umgerechnet 1700 Euro verkauft, um die Reise nach Europa antreten zu können. Auch er landete in Sabha in den Händen der Menschenhändler: Sie schlugen ihn mit Kabeln und Schläuchen auf Fußsohlen und Handflächen. Dem 35-jährigen Guineer gelang schließlich die Flucht nach Agadez. Jetzt will er es erneut versuchen, denn „mit der Scham, den Familienbesitz verkauft zu haben, kann ich mich zu Hause nicht blicken lassen“.

Nach Schätzungen der IOM warten in Libyen derzeit bis zu einer Million Afrikaner, um über das Mittelmeer zu gelangen. In diesem Jahr werden in Italien 200 000 Migranten erwartet, nach 180 000 im vergangenen Jahr. Die Differenz bleibt irgendwo stecken: in der Wüste, in den Fängen der Menschenhändler, im Bordell, auf dem Sklavenmarkt oder im Mittelmeer.

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben in der Abschlusserklärung des EU-Gipfels in Brüssel festgehalten, dass die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern verstärkt werden soll. Zudem sei die Ausbildung und Ausstattung der libyschen Küstenwache ein wesentliches Element.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte unterdessen die Kooperation mit der libyschen Küstenwache. Diese sei bekannt für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, hieß es. Die EU unterstütze damit eine Küstenwache, die Menschen wieder in eine „Hölle aus Gewalt, Misshandlungen und Vergewaltigungen“ zurückbringe.