„Die Behauptung, dass wir uns erst jetzt in einem postfaktischen Zeitalter befinden, ist postfaktischer Unsinn.“

Zugegeben, das Wort „postfaktisch“ ist zurzeit angesagt. Seine inflationäre Verwendung in feuilletonistischen Analysen des Zeitgeists und in von Überraschung dominierten Betrachtungen wichtiger Abstimmungen von Brexit bis Trump qualifizieren den Begriff durchaus zum Wort des Jahres. Nicht so allerdings die Begründung der Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache, es gehe „in gesellschaftlichen Diskussionen zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten“.

In den vergangenen Jahren erkrankten in Berlin tausende Menschen an einer Infektionskrankheit, die längst ausgerottet sein könnte – weil ein Teil der Bevölkerung Impfungen für Teufelszeug hält und in Kinderkrankheiten eine besondere Nähe zur Natur fühlt. Millionen von Deutschen fühlen, dass das Lutschen von völlig überteuertem Haushaltszucker, der in Kügelchen gepresst und mit einem magischen Ritual behandelt wurde, Krankheiten heilen kann. Und selbst in den USA glaubt jeder Fünfte, dass das World Trade Center von der eigenen Regierung gesprengt wurde. Das sind nur einige Beispiele für „Postfaktisches“ aus der jüngeren Vergangenheit. In einem Land, in dem eine ganze Generation – befeuert von Pflichtlektüre in der Schule – in der gefühlten Überzeugung aufgewachsen ist, dass zwischen einem Kernreaktor und einer Atombombe eigentlich kein großer Unterschied besteht, ist Postfaktisches wahrlich keine Neuigkeit.

Selbst Ende des 19. Jahrhunderts, in der Blütezeit des Rationalismus, blühten nicht nur die Wissenschaft, sondern auch
Obskurantismus und Esoterik rund um Spiritismus, Anthroposophie und dergleichen. Zur selben Zeit wurde im Politischen der Antisemitismus salonfähig. Um den Schriftsteller Gideon Böss zu zitieren: „Die Behauptung, dass wir uns erst jetzt in einem postfaktischen Zeitalter befinden, ist postfaktischer Unsinn.“