Die Rede Nikolaus Schneiders. „Muss nicht gerade eine offene, tolerante Gesellschaft eine Linie ziehen, an der sie zusammensteht und sagt: bis hierhin und nicht weiter?“

„Erwachsene Menschen können zuverlässig Gesichter erkennen, erinnern und wiedererkennen. Sublime Veränderungen eines Gesichts beim emotionalen Ausdruck werden wahrgenommen und als soziales Signal verstanden. Die Wahrnehmungsfähigkeit von individuell unterschiedlichen Gesichtern spielt eine zentrale Rolle im sozialen Bereich. Menschen mit eingeschränkter Fähigkeit zur Gesichtswahrnehmung sind schwer beeinträchtigt, insbesondere in der sozialen Kommunikation.“ (Wikipedia)

Nora Illi ist bekanntgeworden, weil sie bei „Anne Will“ war. Wir konnten sie aber nicht sehen. Das liegt nicht an Pay-TV, wie bei den nächsten Olympischen Spielen, sondern am Ganzkörperschleier. Von Frau Illi, die in den Diensten eines fundamentalistischen schweizerischen Islam-Bundes steht, waren nur eine Silhouette und die Augen zu erkennen. Keine Mimik, weder Lächeln noch Zornfalten waren sichtbar, keine Wangenrötung im Eifer des Gefechts. Es war gespenstisch. Moderatorin Will musste sich anschließend viel Kritik anhören, weil sie der Islamistin eine Plattform geboten habe. Immerhin wissen jetzt viele deutsche Zuschauer, wie es wäre, wenn Nikab und Burka zur Alltagskleidung in Schulen, Büros und Fabriken würden.

Nora Illi.
Nora Illi. © dpa

Fundamentalistische Muslime halten den Nikab für obligatorisch. Die Verhüllung gewährleiste nach der Koran-Sure 33, dass Frauen als ehrbar erkannt würden. Dennoch ist diese Verhüllung selbst in vielen islamisch geprägten Ländern umstritten und zum Teil in der Öffentlichkeit verboten. Nikab- freundliche Zeitgenossen sagen: Die Verhüllung sei kein Symbol der Unterdrückung von Frauen. Bei vielen jungen Frauen des Nahen Ostens sei es geradezu chic, Gesicht und Körper zu verhüllen. Und die Macht in muslimischen Ehen sei nicht so einseitig verteilt, wie es unser Klischeebild wolle. Festhalten können wir: Am schwarzen Nikab, wie wir ihn heute sehen, ist nichts Ur-Islamisches. In dieser Form ist er eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Ursprünglich war der Nikab nichts anderes als ein praktisches Kleidungsstück, das Beduinenfrauen vor dem Sand der Wüste schützte.

In unsere Kultur passt er nicht. Unsere Wahrnehmung ist auf das Gesicht geeicht, die Mimik ist bedeutender Teil unserer Kommunikation. Was könnte der Integration hinderlicher sein als eine Verhüllung, die die ohnehin schwie- rige Kommunikation an entscheidender Stelle unterbindet?

Man könnte frei nach dem Preußenkönig sagen, dass jeder nach seiner Façon glücklich werden soll. Die Frage ist nur: Wie liberal darf eine Gesellschaft sein, die zum gelingenden Miteinander gewisser Mindestregeln des Zusammenlebens bedarf? Einige europäische Länder gaben klare Antworten: Frankreich, Belgien, Schweiz, Niederlande und Spanien haben explizit Nikab und Burka oder allgemein die Vermummung verboten.

Deutschland tut sich schwer mit dieser Klarheit. Es ist, als würde uns unsere dunkle Vergangenheit an der Positionsbestimmung hindern. In deutschem Namen hatten die Nazis Millionen von Menschen ermordet, weil sie anders waren, als es die Ideologie vom homogenen Volkskörper vorgab. Weil sie Juden waren oder Kommunisten oder Christen oder Sozialdemokraten oder Sinti oder Homosexuelle oder Behinderte.

Die Scheu vor jeder Einheitslehre ist eine notwendige Reaktion auf die Verbrechen der Nazis und das Schweigen der Anpasser und Mitläufer. Nur laufen wir Gefahr, ins andere Extrem zu verfallen. Muss nicht gerade eine offene, tolerante Gesellschaft eine Linie ziehen, an der sie zusammensteht und sagt: bis hierhin und nicht weiter? Nicht religiöse Intoleranz ist hier das Thema. Niemand verlangt von Muslimen, gleich welcher Glaubensrichtung, dem Koran abzuschwören. Es geht um die Beachtung gesellschaftlicher Regeln, des sozialen Umgangs in der Gesellschaft, die sich die hier lebenden Muslime als Heimat ausgesucht haben.

Noch gehört der Nikab nicht zum Alltagsbild auf den Straßen unserer Region. Aber was wäre, wenn die islamistischen Verführer, die in Wolfsburg und Braunschweig über viele Jahre hinweg weitgehend ungestört Menschen einsammelten, weitere Anhänger fänden? Salafisten-TV ist schon in Planung.

Der frühere Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, hat schon 2013 in Braunschweig klug über den Unterschied zwischen Toleranz und Beliebigkeit gesprochen. Abweichend von seinem Manuskript beschrieb er einen Unterschied zwischen muslimischen und christlichen Jugendlichen: Die einen hätten überhaupt keine Probleme, zu sagen, warum sie Muslime sind. Die anderen blickten häufig ratlos zu Boden, sagte er im Braunschweiger Dom, einem der wenigen Orte, an denen evangelische Standpunkte zu erkennen sind. Schneider mag vor allem die eigenen Kirchen im Blick gehabt haben, die von einer panischen Furcht vor der Eindeutigkeit gepeinigt zu sein scheinen. Aber sind wir nicht alle zu Bodenblickern geworden?

Den aus der Region stammenden Autoren eines Nikab-Verbotsantrages beim CDU-Bundesparteitag kann man mit einigem Recht zurufen, es gebe dringendere Probleme, um die sie sich kümmern sollten. Man darf auch vermuten, dass sie die gut besetzten Fischgründe am rechten Rand im Sinn haben. Aber in einer Situation, in der sich Toleranz und Beliebigkeit innig umarmen, bekennen sie immerhin Farbe.

Die Rede Nikolaus Schneiders finden Sie zum Nachlesen unter www.ekd.de/download/Vortrag_Schneider_AdB_2013_BS.pdf