„Wer im Zeichen des Brexit-Schocks und der europafeindlichen Bewegungen in vielen Mitgliedsstaaten glaubt, Europa dürfe zentralistisch sein, der irrt.“

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„Kleines Land, du hast so viel Seelengröße. Wir mögen dich, ohne dass wir es ganz laut rufen.“
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Führte den Kampf gegen Ceta an: Der Wallone Paul Magnette.
Führte den Kampf gegen Ceta an: Der Wallone Paul Magnette. © dpa


Walons, Hymne der Wallonie

„Welcher Europaabgeordnete sucht in unserer Region den Bürgerdialog? “
„Welcher Europaabgeordnete sucht in unserer Region den Bürgerdialog? “ ©

Das Echo war gewaltig. „Die Wallonen machen die Europäische Union lächerlich“, hieß es. Oder: „Sigmar Gabriel hat Europa kaputtgemacht!“ Das EU-Establishment machte aus der Zitterpartie ums Freihandelsabkommen Ceta eine Zeterpartie. Und das alles, weil die südliche Hälfte Belgiens Sorge um ihre Bauern und um die Rechtsstaatlichkeit der Schiedsverfahren hatte.

Zugegeben: Es wirkt skurril, wenn eine Region mit dreieinhalb Millionen Einwohnern die EU blockiert. Aber in Wirklichkeit war das keine Frage der Größenverhältnisse. In der Sache dürften sehr viele Euro-Bürger hinter der südbelgischen Bremsaktion stehen.

Freihandel hat bei vielen Bürgern einen schlechten Ruf, auch in Deutschland, dem Land, das durch ungehinderten Austausch von Waren und Dienstleistungen mit Abstand am meisten zu gewinnen hat. Da kann Wirtschaftsminister Gabriel noch so fleißig erklären, dass die Kanadier den Europäern weiter entgegengekommen sind, als es die Fachleute für möglich gehalten hätten: Die Furcht vor Sozialdumping oder erodierendem Umwelt- und Verbraucherschutz sitzt tief.

Deshalb hatte ja auch Deutschland Nachbesserungsbedarf angemeldet. Gabriel hätte seine eigene Partei, die SPD, sonst kaum auf Zustimmungskurs gebracht. Und: Das Bundesverfassungsgericht machte klar, dass die Vereinbarungen mit Kanada sich für den Augenblick ausschließlich auf den Zuständigkeitsbereich der EU erstrecken dürfen. Über alles Weitere entscheidet der Bundestag.

Das hat nichts mit einer „Renationalisierung der Handelspolitik“ zu tun, von der Europa-Politiker nun im Ton tiefmoralischer Entrüstung sprachen. Das ist schlicht und ergreifend die Beachtung des geltenden Rechts. Gerade deutsche Politiker sollten deshalb nicht gar so pompös in Richtung Namur wettern.

Wie es aussieht, wird Ceta nach dem wallonischen Nervenkrieg nun um eine weitere Zusatzerklärung ergänzt und kommt in seiner vorläufigen Form doch noch zustande. Es wäre also nicht das Geringste kaputtgegangen. Im Gegenteil. Den Wallonen sagt man nach, sie kochten gerne auf kleiner Flamme, das aber sehr gründlich. Wallonische Ausdauer, die das Lapin aux pruneaux zur Köstlichkeit macht, hätte sich dann auch außerhalb der Küche bewährt – und dem Freihandel zu einer stabileren Basis mit größerer Akzeptanz verholfen.

Kritiker sagen, die Wallonen hätten die EU in „politische Geiselhaft“ genommen, wie BDI-Präsident Ulrich Grillo sagt, der ranghöchste Vertreter der deutschen Industrie. Ist das so? Dieser Eindruck kann eigentlich nur dann entstehen, wenn man lediglich die vergangenen Tage betrachtet. Für ihr Timing mag man die Wallonen kritisieren. Sie haben ihren Widerstand auf den Moment größter Wirksamkeit gelegt, nutzten die Erpressbarkeit der EU und der eigenen Zentralregierung gnadenlos aus. Aber hätten sie mit feineren Methoden eine Chance auf Gehör gehabt?

Die Verhandlungen über Ceta dauerten Jahre. Und in all dieser Zeit ist es den EU-Verantwortlichen nicht gelungen, die Bedenken vieler Bürger zu zerstreuen. Denn so wahr es ist, dass Kanada zum Entsetzen seines Nachbarn USA sehr weit auf die Europäer zuging, so groß blieb der Abstand zu den Verfahren und Normen, die uns in Europa wichtig sind.

Das politische Europa sagt mehrheitlich: Über diesen Graben müssen wir springen, weil der Nutzen des Freihandelsabkommens viel größer ist als die Gefahr. Viele Bürger bleiben skeptisch.

Natürlich: Wer tragfähige Abkommen schließen will, muss handlungs- und verhandlungsfähig sein. Ohne zentrale Verhandlungsführung durch Brüssel ist das nicht denkbar. Das Bedienpersonal der Politikmaschinerie Europas bemüht gerne die Angst vor der Unregierbarkeit Europas. Aber was hilft die schönste Kompetenzverteilung, wenn die Bürger sich nicht mehr vertreten fühlen?

Die EU braucht ein Mandat, das nicht nur auf Zuständigkeitsregeln und den Willensbekundungen der Regierungen der Mitgliedsstaaten basiert. Europa muss den Konsens der Bürger suchen. Wer im Zeichen des Brexit-Schocks und der europafeindlichen Bewegungen in vielen Mitgliedsstaaten glaubt, Europa könne zentralistisch funktionieren, nährt Zweifel an seiner Erkenntnisfähigkeit.

Brüssel muss heraus aus dem Elfenbeinturm, es muss den Dialog mit den Bürgern auch auf nationaler Ebene ernst nehmen. Denn auch die Ceta-Debatte zeigt: Europa hat ein massives Kommunikationsproblem.

Die Lösung liegt nicht in zusätzlichen Reisen des EU-Kommissionspräsidenten. Europa braucht die Rückkopplung an den gesellschaftlichen Diskurs in der Fläche, wie er in den deutschen Bundesländern recht gut und im Bund noch leidlich gelingt. Den Europaparlamentarier käme eine bedeutende Rolle zu. Aber gerade die gewählten Vertreter des Volkes spielen in der Diskussion vor Ort bisher keine Rolle. Welcher Abgeordnete des Europaparlaments sucht in unserer Region den Bürgerdialog? Auf Wunsch ist unsere Redaktion gerne behilflich.