„Die Erosion der Verbindlichkeit unserer gesellschaftlichen Regeln muss aufhören.“

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„Und wenn Du gehst, wohin willst Du Dich wenden?“
Aus dem Song „Far Too
Close“ der schwedischen

Band „Graveyard“

„Wenn Wissen die Ahnung ersetzt, schwindet jedenfalls die Furcht.“
„Wenn Wissen die Ahnung ersetzt, schwindet jedenfalls die Furcht.“ ©

Unsere Kultur ist individualistisch. Freiheit und Entfaltung des Einzelnen gehören sogar zu den Grundwerten unserer staatlichen Ordnung – die Verpflichtung auf ein Kollektiv spielt in der Lebenspraxis westlicher Demokratien eine weit untergeordnete Rolle.

Solidarität verhindert, dass die Freiheit des Einzelnen zum krassen Egoismus degeneriert. Die Idee der Väter unserer Grundordnung war die Verbindung der Freiheit des Einzelnen mit sozialem Miteinander und Füreinander. Unser Sozialstaat und die soziale Marktwirtschaft sind wohlorganisierte Ausprägungen des Gedankens von Freiheit auf der einen und Solidarität auf der anderen Seite.

Aber wird dieser Gedanke noch von der Bürgerschaft geteilt? Die „Ich zuerst!“-Mentalität muss man im Alltag nicht lange suchen. Respekt vor dem Mitmenschen scheint schon in banalen Alltagssituationen unter Druck zu geraten – jeder, der sich am Straßenverkehr beteiligt, weiß ein Lied davon zu singen. Riskante Überholmanöver, Ignoranz gegenüber den Verkehrsregeln, Hupkonzerte, wenn es an der Ampel mal nicht weiter geht – die Aggression, die man da erleben kann, trägt pathologische Züge. „Hoppla, jetzt komm’ ich“ – und die Konsequenzen sind egal.

Immer mehr Mitbürger wollen genau das nicht mehr sein. Sie leben ihr Leben und nur ihr Leben, informieren sich nicht über das Geschehen, beteiligen sich nicht an Wahlen, erwarten für jede Aufgabe eine staatliche Lösung, würden nicht im Traum auf den Gedanken kommen, sie könnten selbst anpacken.

Eine besonders krasse und in ihren jüngsten Auswirkungen tragische Form dieses Ego-Trips sind offenbar die Vertreter einer heterogenen Schar von Esoterikern, Rechtsextremisten und simplen Spinnern, die man der Einfachheit halber unter dem Begriff „Reichsbürger“ zusammenfasst. Sie sprechen unserem Staat die Legitimation ab, manche erklären ihr Privathaus zum Staat, andere verweigern „nur“ die Anerkennung von Steuerpflicht und staatlichen Bescheiden. Motto: Welches Gesetz gilt, wird man doch wohl noch selbst entscheiden dürfen. Wie der bayerische Innenminister Joachim Herrmann diese Woche bestätigte, sind sogar Polizisten unter ihnen. Das Geld des Staates, den sie nicht anerkennen, scheinen sie immerhin zu akzeptieren.

Die „Reichsbürger“ sind ein weiteres Beispiel für Parallelgesellschaften, die im Zuge der Überfremdungsdiskussion heftig kritisiert werden. Der Unterschied: Hier geht es nicht um orientalische Großfamilien, die mitten unter uns leben, aber die Regeln unserer Gesellschaft negieren, sondern um Deutsche. Machen wir uns nichts vor: Beides sind schwere Fehlentwicklungen, die gravierende Auswirkungen haben können. Es rächt sich, wenn Staat und Gesellschaft wegsehen. Das zeigen nicht nur die tödlichen Schüsse auf einen Polizeibeamten in Mittelfranken. Die Erosion der Verbindlichkeit muss aufhören.

Glücklicherweise ist diese Welt nicht schwarz und weiß. Diese Woche hatte unsere Zeitung die Freude, im Namen der Leser der „Gifhorner Rundschau“ ehrenamtlich tätige Menschen zu ehren. Die „Gifhorner des Jahres“ können als Beispiel dienen, dass Eigennutz und Gemeinnutz noch in Balance sind. Es sind ausnahmslos Menschen, die in engem Kontakt mit ihren Mitmenschen leben. Sie sind das Gegenbeispiel zu dem Phänomen, dass soziale Bindungen abreißen oder gar nicht erst entstehen, dass Kommunikation nicht mehr stattfindet.

Dagegen kann man etwas tun. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hatte diese Woche in Braunschweig zu einem „Dialog auf Augenhöhe“ eingeladen. 90 Bürger kamen zusammen, um Fragen von Migration und Integration zu diskutieren. Aus Teilnehmerkreisen war später zu hören, der Austausch von Meinungen und Erfahrungen sei ausgesprochen bereichernd gewesen. Vielleicht sind solche Foren der richtige Weg, den stockenden gesellschaftlichen Dialog in Gang zu bringen.

In der Woche, in der das „Paläon“ vor der Auszehrung gerettet wurde und das Herzog-Anton-Ulrich-Museum wieder öffnet, sei an den Wert kultureller Bildung für die Diskursfähigkeit einer Gesellschaft erinnert. Wer sich nicht mit den gleichsam ewigen Werten auseinandersetzt, wird schwerlich einen belastbaren Standpunkt einnehmen können.

Und weil der Bund der Steuerzahler gerade so schön gegen die Hilfe des Landes für das Speeremuseum wettert: Kultur und deren Vermittlung kosten tatsächlich Geld. Wahr ist aber auch, dass dieses Geld glänzend investiert ist, beim HAUM wie beim „Paläon“. Der Mensch, verehrte Steuersparer-Lobbyisten, lebt nicht vom Brot allein! Abertausende von Besuchern des „Paläon“, darunter viele Schulkinder, können bezeugen, dass dieses Museum die Weltsicht bereichert.

Wenn Wissen die Ahnung ersetzt, schwindet jedenfalls die Furcht. Wer einen der 200 Plätze beim Leserforum unserer Zeitung in Kooperation mit der TU Braunschweig und dem VW-Betriebsrat ergattert hatte, konnte vom Digital-Guru von Volkswagen lernen, dass Elektromobilität und autonomes Fahren mindestens so viele Chancen wie Gefahren bergen. Johann Jungwirth ist ein anregender Denker, der Fragen stellt, die – in diesem Fall – von der Autoindustrie, von Wissenschaft, Gewerkschaften und Politik beantwortet werden müssen. Der Abend stimmte durchaus optimistisch. Der Wandel kann gelingen – allerdings nur, wenn alle Beteiligten zur Kenntnis nehmen, wie schnell sich der Uhrzeiger dreht. Und: Gemeinsam wird’s was. Aber auch nur gemeinsam.