Sexuelle Unreife, Persönlichkeitsstörungen und pädophile Neigungen: Was Wissenschaftler über katholische Geistliche zu sexuellem Missbrauch zusammengetragen haben, klingt erschreckend. Bei insgesamt rund 12 900 dokumentierten sexuellen Vergehen von Kirchenmännern in neun Staaten fassten rund 40 Prozent der Täter Kinder und Jugendliche über und unter deren Kleidung an. Mehr als ein weiteres Drittel wollte richtigen Sex. Anders als bei Missbrauchsfällen in Schulen und anderen Institutionen vergingen sich Geistliche in erster Linie an Jungen, berichtet Harald Dreßing vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim.

Die Analyse, in die zu einem Drittel jüngere deutsche Studien einflossen, gehört zum Forschungsprojekt zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland. Die Aufarbeitung ist eine Folge des Missbrauchsskandals, der 2010 am Berliner Canisius-Kolleg ans Licht kam und eine Lawine ins Rollen brachte. Das Projekt startete holprig. Die Bischofskonferenz hatte den Auftrag zuerst an das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen gegeben, es dem damaligen Leiter Christian Pfeiffer aber dann wieder entzogen. Pfeiffer sprach in Interviews von Kontrolle und Zensur.

Die neue Recherche in deutschen Diözesen soll bis Ende 2017 laufen und hat gerade erst richtig begonnen. Die Forscher wollen von Personalakten bis zu Geheimarchiven Dokumente zu sexuellem Missbrauch sichten. „Wir kriegen von den Diözesen bisher alles, was wir anfordern“, sagte Dieter Dölling vom Kriminologischen Institut der Universität Heidelberg.

Die Frage ist, ob die Akten-Methode die volle Wahrheit ans Licht bringen kann. 1700 Menschen haben bei der katholischen Kirche in Deutschland inzwischen Anträge auf Entschädigung für sexuellen Missbrauch gestellt und ihre Peiniger genannt. Oft gebe es in den Personalakten aber keine Hinweise auf sexuelle Übergriffe, sagt Bischof Stephan Ackermann, Beauftragter der Bischofskonferenz für Fragen sexuellen Missbrauchs. Aktenvernichtung in größerem Stil habe es dabei nicht gegeben.

Im Rückblick liegt das Versagen wohl eher am Desinteresse der Kirche, genau hinzuschauen. Es habe Fälle gegeben, bei denen die Staatsanwaltschaft bei Missbrauchsvorwürfen gegen Geistliche ermittelte, die Kirche aber keinen eigenen Prozess anstrengte, sagt Ackermann. Geistliche wurden wohl auch in andere Diözesen versetzt, ohne dass dort jemand etwas von Verdachtsmomenten zu Missbrauch erfuhr. Totschweigen statt Sanktionen oder Hilfsangeboten – in dieser Umgebung konnten Täter weitermachen.

Um ein genaueres Bild für Deutschland zu bekommen, wollen die beauftragten Wissenschaftler neun Diözesen besonders unter die Lupe nehmen: Bamberg, Berlin, Essen, Freiburg, Hamburg, Magdeburg, Paderborn, Speyer und Trier. „Es geht um Erkenntnisse, welche Strukturen Missbrauch begünstigt haben“, sagt Bischof Ackermann. Es geht aber nicht um Namensnennung, Strafverfolgung oder Diözesen-Bashing.

Es ist vor allem diese Klausel, die Opferverbände an dem Projekt zweifeln lassen. dpa