„Der alte Grundsatz ,Auge um Auge‘ macht schließlich alle blind.“ Martin Luther King

Zwei Männer stürmen die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“. Den Zugangscode pressten sie einer Zeichnerin ab, der sie auf der Straße auflauerten. In der Redaktion erschießen sie zwölf Menschen, darunter vier Karikaturisten, den Chefredakteur und zwei Polizisten.

„Charlie Hebdo“ wurde von Islamisten bedroht, der Chef Stéphane Charbonnier stand auf einer Todesliste der Al Kaida. Seit zwei Jahren kursierte eine detaillierte Anleitung, wie der Journalist und Karikaturist zu ermorden sei. Charbonnier und seine Redaktion wussten, dass sie in Gefahr schweben. Einen Brandanschlag hatten sie überstanden – einschüchtern ließen sie sich nicht.

Chefredakteur Armin Maus
Chefredakteur Armin Maus

Die Redaktion veröffentlichte weiterhin ihre Karikaturen, darunter welche, die so scharf und polemisch sind, wie sie deutsche Karikaturisten eher selten zeichnen. Die letzte Arbeit Charbonniers wirkt, als hätte er die Zukunft gesehen. „Noch kein Anschlag in Frankreich“, ist sie überschrieben. Und ein grotesk überzeichneter „Gotteskrieger“ kommentiert: „Wartet mal ab. Geschenke darf man bis Ende Januar bringen.“

Der französische Staat versuchte, diese mutigen, radikal freiheitsliebenden Menschen zu schützen, denn sie nahmen ein essenzielles Grundrecht jeder demokratischen Gesellschaft in Anspruch. Der Schutz versagte jämmerlich. Die Attentäter kannten den Standort der Redaktion, sie wussten, wann ihre Mitglieder sich zur Wochenkonferenz versammeln. Der Polizeischutz reichte nicht aus. Das ist die erste Lehre aus den feigen Morden in der Rue Nicolas-Appert: Massive Gefahr erzwingt massive Sicherheitsvorkehrungen, wenn Mut nicht selbstmörderisch werden soll.

Die Täter sind polizeibekannte Radikale. Zu den Stationen ihrer Terror-Karriere zählen Terrorcamp und Gefängnis. Der Staat hatte sie „auf dem Schirm“, aber er konnte sie nicht bremsen. Das ist die zweite Lehre: Extremisten dieser Art sind wie wandelnde Sprengfallen – wer sie daran hindern wollte, ihre mörderischen Märtyrer-Verirrungen auszuleben, müsste sie auf Schritt und Tritt beobachten. Es liegt auf der Hand, dass die liberalen Rechtsstaaten des Westens dabei schnell an ihre Grenzen stoßen. Der harte Durchgriff der französischen Sicherheitsbehörden nach der Tat ändert nichts an der Verwundbarkeit unserer Länder.

Ein, zwei Extremisten mit Feuerwaffen und dem unbedingten Willen zu töten können überall und jederzeit ein Massaker anrichten. Diese beunruhigende Einsicht mag das Bundeskriminalamt dazu veranlasst haben, deutsche Redaktionen zu bitten, vor der Veröffentlichung bestimmter Inhalte eine Gefahrenmeldung abzusetzen. Wirklichen Schutz verspricht das nicht – und man sollte die Zivilcourage von Journalisten nicht unterschätzen. Die Attentäter konnten zwölf wehrlose Menschen töten. Den Freiheitswillen werden sie nicht besiegen. Das ist die dritte Lehre.

Die Mörder von Paris begingen ihre Untaten trotz Überwachung und Vorratsdatenspeicherung. Das ist die vierte Lehre: Die Sicherheit der Bürger wächst nicht, wenn der Staat ihre Daten hortet. Bestenfalls hilft es nach der Tat, die Mörder zu fassen – falls sie dann überhaupt noch leben. Dass Innenpolitikern in Deutschland dennoch nichts Besseres einfällt, als einmal mehr die Vorratensdatenspeicher-Rassel zu schütteln, deutet auf ihre Armut hin.

Die Mörder haben orientalische Vorfahren, aber sie sind gebürtige Franzosen. Sie haben eine französische Schule besucht, ein Leben lang in einem freien Land gelebt. Zu schätzen wussten sie es nicht. Das ist die fünfte Lehre: Die Bedrohung kann von innen kommen, die Sozialisation in einem westlichen Land immunisiert einen Menschen nicht gegen mittelalterliche Irrlehren.

Das wirft Fragen auf, die wir nicht mit dem Verweis auf Hetzprediger vom Tisch wischen können. Wer in den Armenvierteln von Paris war, der ahnt, wie in einer demütigenden Umgebung solcher Hass aufs eigene Land, auf die eigene Gesellschaft wachsen kann. Das mindert nicht die persönliche Schuld der Mörder und ihrer ideologischen Verführer. Aber, die sechste Lehre: Es zeigt, dass der Kampf gegen den Terror eben nicht nur mit Horchbesteck und Waffe gewonnen wird.

In unserer Region gibt es viele kluge, weltoffene Muslime, Christen und Juden, die den Weg der Verständigung gehen. In den aufgeheizten Monaten, die hinter uns liegen, erschütterten uns die Nachrichten aus Gaza, aus Syrien, dem Irak und nun aus Frankreich. Wir erlebten, dass in Deutschland antisemitische, antimuslimische und ausländerfeindliche Parolen artikuliert wurden, die eine Schande für unser Land sind. Viele, die unermüdlich für den Dialog arbeiten, wurden tief frustriert, ihr guter Wille auf eine harte Probe gestellt. Das ist die siebte Lehre: Wenn wir den Radikalen in den Weg treten wollen, müssen wir jene unterstützen, die den Weg der Nächstenliebe und Vernunft gehen.

Muslime in Frankreich, Deutschland und überall in unserer Region haben nach den Morden mutig Position gegen den Terror und den Islamismus bezogen. Das ist die achte Lehre: Die Mörder Stéphane Charbonniers und seiner Kollegen sind so wenig „der Islam“ wie der Massenmörder und selbst ernannte Kreuzritter Anders Breivik für „die Christen“ steht.

Der islamistische Terror gibt jenen Auftrieb, die Angst vor dem Islam schüren. Es ist ein gefährliches Spiel. Wer genauer hinsieht, wird erkennen, dass der Weg in eine friedlichere Zukunft nicht über Vorurteile, sondern über Fakten führt, nicht über Konfrontation, sondern über Dialog , nicht über Distanzierung, sondern Nähe.