Berlin.

Zu „Experten: Steuerzahler entlasten“ vom 9. November:

Immer wieder ertönt aus den Kreisen sogenannter Wirtschaftsweiser der Ruf nach Steuerentlastungen, sobald zu erkennen ist, dass der Staat ein Plus an Steuereinnahmen erzielt. Dies soll gerne im Bereich „kleiner bis mittlerer Einkommen“ erfolgen, heißt es dann. Vermutlich um Zuspruch aus der Bevölkerung für die eigene Meinung zu bekommen.

Ich möchte diesem Ruf nach Steuerentlastungen widersprechen. Das hat folgende Gründe:

Schulen verfallen, Krankenhäuser sind unterfinanziert, Polizisten durch endlose Überstunden überlastet. Es wird mir vermutlich kaum jemand widersprechen, wenn ich behaupte, dass das Gemeinwohl dringend mehr Gelder nötig hat, um auch in Zukunft gut zu funktionieren.

Doch auch der Investitionsstau aufseiten der Infrastruktur ist enorm. Nicht nur sind zahlreiche Straßen und Brücken bereits für Schwerlastverkehr gesperrt, auch der Ausbau der digitalen Infrastruktur hängt hinterher. Dies geht soweit, dass der Investitionsstau in der Infrastruktur in einigen Kreisen bereits als Wachstumshemmnis gesehen wird. Der Staat ist folglich dringend angeraten, die Finanzierung seiner Aufgaben sicherzustellen oder gar auszubauen. Mehr Steuereinnahmen wären dort sicherlich ein erster Schritt.

Ich spreche bewusst im Konjunktiv, da den erwarteten Steuermehreinnahmen in Höhe von rund 2% eine Inflation von rund 1,8% im Jahr 2017 entgegensteht. Diese wird von den Wirtschaftsweisen unterschlagen - wissentlich, möchte ich ihnen unterstellen. Die Inflation in die Rechnung einzubeziehen, bedeutet, dass die Mehreinnahmen von der Teuerungsrate aufgefressen werden. Der Staat verzeichnet zwar höhere Einnahmen, diese sind inflationsbedingt jedoch nötig, um den aktuellen Stand an Leistungen aufrechterhalten zu können. Ein tatsächliches Plus ist nicht zu erkennen.

Steuerliche Entlastungen rissen dementsprechend Finanzierungslücken in die Staatskasse, die wie so oft durch Kürzungen von Sozialleistungen oder durch einen Finanzierungsstopp öffentlicher Einrichtungen refinanziert werden. Viele Einrichtungen (Bäder, Theater, uvm.) können deutschlandweit ein Lied davon singen. Um sich zu finanzieren, müssen dann Mitgliedsbeiträge oder Eintrittspreise erhöht werden. Am Ende steht gerade für die „kleinen bis mittleren Einkommen“ unterm Strich ein Verlust, da die geringen steuerlichen Erleichterungen, die sie erfahren, schnell von zusätzlichen Ausgaben übertroffen werden.

In meinen Augen sind sogar Steuererhöhungen angebracht, wenn nicht gar unumgänglich. Allerdings nicht bei „kleinen bis mittleren Einkommen“, wo es für gewöhnlich der Fall ist. Die sogenannten Paradise-Papers haben aufgezeigt, wie der Staat von Konzernen und Superreichen um etliche Milliarden betrogen wird. Werden diese Gelder konsequent der Staatskasse zugeführt, der sie auch zustehen, sind die gewaltigen finanziellen Aufgaben, vor der das Land steht, zu bewältigen.

Dieser Schritt ist auch hinsichtlich der Stimmung in der Gesellschaft längt überfällig. Das Rumoren in der Bevölkerung, die die Mauscheleien von Politik und Wirtschaft satt hat, ist unüberhörbar. Dass Misstrauen zwischen der Bevölkerung und „den Politikern“ war dieser Tage selten größer, die offenen Feindseligkeiten, die in den letzten Jahren dazugekommen ist, gänzlich neu. Wenn der Entsolidarisierung und der Entwicklung zur Zwei-Klassen-Gesellschaft entgegengewirkt wird, kann man die Risse zwischen Volk und Politik wohlmöglich noch kitten.

Paul Lüneburg, Braunschweig