Gelsenkirchen. Aus den gejagten WM-Champions sind in nur vier Tagen plötzlich Jäger geworden; Platz vier in der Qualifikationsgruppe mit vier Punkten ist ungewohnt.

Nicht mal die Heimreise klappte für Joachim Löw wie geplant. Der Streik der Lokführer verhinderte nach der Irland-Blamage die bequeme Bahnfahrt nach Freiburg. Am Mittwochmorgen um 8.30 Uhr erfuhr der Bundestrainer erst vor dem Essener Hauptbahnhof, dass sein Zug gen Süden ersatzlos gestrichen war. Der Weltmeister-Trainer musste wieder in eine schwarze DFB-Limousine umsteigen. So konnte Löw auf der 495 Kilometer langen Autobahnfahrt nochmals über die Probleme nachdenken, die das deutsche Fußball-Nationalteam derzeit plagen.

„Wir hätten uns das auch anders vorgestellt, dass wir mit mehr Punkten aus den Oktober-Spielen kommen“, erklärte Löw. „Das haben wir uns aber auch selbst zuzuschreiben, weil wir in den letzten fünf, sechs Minuten das Spiel nicht mehr unter Kontrolle hatten“, sagte der 54-Jährige zur bitteren Partie vor 51 204 Fans auf Schalke.

Die Qualifikation für die Europameisterschaft 2016 in Frankreich ist bisher mit vier Punkten und 3:4 Toren aus drei Partien alles andere als planmäßig gelaufen. Nie ist Deutschland seit der ersten Ausscheidungsrunde für die WM 1938 schlechter gestartet.

Allein mit fehlendem Glück und Überlastung wollten auch Löws Spieler den historischen Fehlstart nicht begründen. „Das ist kein Pech. Das haben wir uns selber eingebrockt“, sagte Ersatzkapitän Manuel Neuer nach dem blamablen Remis gegen die biederen Jungs von der Grünen Insel. Aus den gejagten WM-Champions sind in nur vier Tagen plötzlich Jäger geworden; Platz vier in der Quali-Gruppe mit vier Punkten hinter Polen (7), Irland (7) und Schottland (4) ist ungewohnt. Die heftigen Nachwirkungen der strapaziösen WM schleppen die Champions ins neue Jahr.

„Das ist jetzt eine Drucksituation. Das müssen und werden wir hinkriegen“, erklärte Mats Hummels, der den Last-Minute-Ausgleich der Iren nicht verhindern konnte. „Man denkt, das ist ein Kinderspiel“, wenn der Weltmeister gegen Teams wie Irland anzutreten hat, bemerkte der Dortmunder. Doch ein Kinderspiel ist für die Helden von Brasilien mit ihren neuen Mitspielern derzeit gar nichts.

Die Gründe für die Schwierigkeiten, nach dem emotionalen Titelgewinn vor drei Monaten wieder in den reibungslosen Quali-Sieger-Modus umzuschalten, sind vielschichtig. Nur noch 13 der 23 Weltmeister standen gegen Irland zur Verfügung. Die Ausfall-Liste ist lang, die Mannschaft hatte ein völlig neues, extrem junges Gesicht. „Wir haben noch nicht das Tempo und die Präzision, das hatte ich fast erwartet. Man kann auch nicht erwarten, dass jeder nach dieser WM im Vollbesitz der geistigen und körperlichen Kräfte ist“, meinte Löw, der für grundlegende neue Überlegungen keinen Grund sieht.

Den jungen Nachrückern wie Erik Durm (22), Antonio Rüdiger (21), Julian Draxler (21) oder Matthias Ginter (21) fehlt es noch an internationaler Erfahrung sowie Klasse - und starken Ziehvätern. „Khedira, Schweinsteiger, Lahm haben ganz jungen Spielern Halt gegeben in schwierigen Momenten, auf und neben dem Platz. Die Typen sind im Moment nicht da“, bemerkte Löw, auch wenn er beobachtet hat, „dass Neuer, Kroos, Hummels, Müller und Boateng mehr in die Verantwortung gehen“. Ein außergewöhnlicher Ideengeber wie Marco Reus auf dem Platz wird ebenfalls schmerzlich vermisst.

Dennoch hatte die deutsche Ersatz-Auswahl genug Chancen, das 0:2 in Polen und das 1:1 gegen Irland zu verhindern. Es fehlte aber die letzte Konsequenz, die lockere Überlegenheit verleitete offenbar zu ein paar Prozenten weniger Entschlossenheit. „Man muss sich aussprechen, und man muss den Ernst der Lage erkennen und aufwachen und die nächsten Spiele alle gewinnen“, forderte der Münchner Jérome Boateng. Gegen Irland verhinderten ein Stück Angst gepaart mit Naivität und einer ganzen Fehlerkette nach dem Führungstreffer von Toni Kroos (71.) den Erfolg. John O'Shea ließ in seinem 100. Länderspiel in der letzten Minute den großen Außenseiter jubeln.

Und nun? „Dass das als Krise dargestellt wird nach außen, ist klar, wenn man aus zwei Spielen nur einen Punkt mitnimmt als Deutschland, das ist nicht unser Anspruch“, sagte Lukas Podolski, der in Halbzeit zwei keine großen Akzente setzen konnte. „Wir dürfen uns nicht vorwerfen, dass wir katastrophal gespielt haben“, bemerkte der schwächelnde Profi des FC Arsenal. Klartext sprach Podolski trotzdem: „Wir haben die Punkte nicht und das reicht nicht.“

Den Zeitpunkt für personelle Korrekturen etwa in der zentralen Angriffsposition, in der WM-Torjäger Thomas Müller sichtbar schwächelt, sieht Löw derzeit noch nicht. „Wir kennen unsere Spieler, wissen um ihre Qualitäten. Das war alles nicht völlig unerwartet“, bemerkte der Freiburger. Und im kommenden Jahr, so Löw zuversichtlich, „schlagen wir wieder zurück“.

Auch Podolski ist zu „100 Prozent sicher, dass wir die Quali schaffen“. Von einer leichten Aufgabe aber spricht niemand mehr. „Das ist keine einfache Gruppe. In Irland und in Schottland - das sind jetzt heiße Spiele“, ergänzte der 120-malige Nationalspieler. Beim nächsten Termin dürfen sich Löw und Co. in Berlin aber erst noch einmal feiern lassen, wenn sie für den Rio-Sieg das Silberne Lorbeerblatt erhalten und dann der WM-Film Premiere hat. „Das Gute wird immer schnell vergessen“, meinte Torschütze Kroos. Einmal wird es noch ernst - wenn es gegen den ultimativen Underdog geht. Mit einem Schmunzeln sagte Löw: „Gegen Gibraltar werden wir gewinnen.“ dpa

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